Meine Mutter, die Gräfin
Fritz – sie um den Tisch jagt? Keine Freud'sche Fehlleistung – sondern Rache als Motiv?
Ich verspüre so etwas wie Erleichterung, als mir dieser
Gedanke kommt. Doch dann rufe ich mich zur Ordnung. Das wäre ja fast so, als ob ich die Schuld auf Leni schieben würde; der Klassiker schlechthin – den Mädchen keinen Glauben zu schenken. Ich muss mehr über ihn herausfinden – ihn, den jungen Mann, in den sich meine entzückende Großmutter damals verliebt hat. Und dem sie wie eine reife Pflaume in den Schoß gefallen ist.
Fritz
Und wie es sich traf, vertrieb er sich – als er 1931/1932 vier kalte Wintermonate in Rumänien in der kleinen Bukowiner Stadt Radautz in der Haft saß – die Zeit damit, sein Leben aufzuschreiben. Auf 64 handgeschriebenen Bögen, die Rückseiten von Bestellformularen aus der Buchhandlung, brachte er sein Leben bis zu seiner Hochzeit zu Papier. Meine Schwester Eili versucht die fürchterliche altdeutsche Schrift zu entziffern. Womöglich ist es ein weiteres, aus der Verzweiflung geborenes Projekt von Fritz, dem er sich dort im Gefängnis träumerisch verschreibt – ein Buch zu verfassen, seine Würde zurückzuerobern, Autor zu werden? Damit den großen Durchbruch zu erzielen und Geld zu verdienen?
»Such mal«, sage ich zu Eili, »such mal, ob du irgendwelche Hinweise darin findest – ob es wirklich stimmt, dass er ein Pädophiler war.«
Und Eili fasst zusammen: Die Familie Schledt wohnte in Hamburg in einer Klosterschule – nein, sie sind dort nicht zur Schule gegangen; sie haben da gewohnt, am Holzdamm in St. Georg, einer in Alsternähe gelegenen Straße. Die Familie bestand aus Vater Heinrich Friedrich Georg Jakob Schledt, geboren 1839 (gestorben 1901) und Johanna Carolina, geboren 1842 (gestorben 1908). Mutter Schledt war zuvor schon einmal verheiratet gewesen – ihr erster Ehemann war wahrscheinlich verstorben –, und sie hatte offenbar mehrere Kinder mit in die zweite Ehe gebracht.
Es gibt da ein Foto, das Fritz als Teenager zeigt, wie er hinter seiner ehrfurchtgebietenden, durch und durch deutschen Mutter steht. Ein niedlicher Junge mit einem schön geschnittenen Gesicht, das, wie ich finde, Charlotte geerbt hat, wenngleich es hier wie versteinert aussieht. Vier weitere Knaben sind noch auf dem Bild zu sehen – der Kleinste steht neben seiner Mama und hält fest ihre Hand umklammert. Das Bild zeigt auch ein Mädchen in einem hellen weißen Kleid, die eine Rosette in ihren langen blonden Haaren trägt.
Das Biedermeierzeitalter. Buddenbrooks. Keiner verzieht eine Miene. Alle wirken, als seien sie vom Ernst des Augenblicks ergriffen. Zu Recht. Und das ist alles, was von diesem ganzen Leben von vor über hundert Jahren in Hamburg übrig geblieben ist. Ich vermute, dass das Foto 1894 aufgenommen wurde und Fritz darauf sechzehn ist.
Auf elf dicht beschriebenen Rückseiten berichtet er aus seiner Kindheit. Sein Vater schlägt sie – hart und regelmäßig – wie auch der Rektor der Klosterschule, der ihr Vermieter war. Die Kinder ließen sich scherzhaft darüber aus, wer von den beiden der Schlimmere sei. Trotzdem hat es sich in Fritz' Erinnerung um eine glückliche Kindheit gehandelt. Sie liefen umher und spielten auf Treppen und in Rumpelkammern, wenn sie nicht beim Binden von Schreibheften helfen mussten, was offenbar ein solides Handwerk war. Die Schule war widerwärtig, und damit basta. Danach ging er bei seinem Vater in die Lehre, in die Buchhändlerlehre. Das sei eine gediegene Ausbildung von vier Jahren und ein Beruf mit einem gewissen Ansehen gewesen, eine intellektuelle Handwerkstätigkeit.
»Und weißt du was«, sagt Eili und ihre Stimme nimmt einen fast verlegenen Ton an. »Als er die Gesellenprüfung bestanden hatte, bekam er von seinen Kollegen einen Bierkrug
geschenkt. Das ist der, den ich habe. Fritz Schledt steht darauf, aber ich wusste doch nicht …«
Der junge Fritz Schledt (hinter seiner Mutter stehend) im Kreise seiner Geschwister.
Danach ging er auf Wanderschaft, fort aus Hamburg. 1897 fand er Arbeit in der kleinen Stadt Hof, im nordöstlichsten Winkel Bayerns, die damals erst recht ein kleines Nest war. Seine erste Anstellung dort schien furchtbar eintönig gewesen zu sein – kaum ein Kunde, er steht hinter seinem Pult, hinter ihm der Chef an seinem, das selbstverständlich größer gewesen war, während er versucht, sich irgendwie wach zu halten, zu verhindern, dass ihm der Kopf schlafend auf die Brust sinkt.
Wobei die Müdigkeit nicht
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