Meine Mutter, die Gräfin
Monate – bis zum späten Frühjahr 1905 –, bis sie sich wiedersehen, bis die Kutsche wieder angefahren kommt. Und jetzt erkennt er sie als den Wagen vom Gut Ratshof, auf dem Herr von Liphart residiert, und Fritz kundschaftet auch bald aus, dass sie Französischlehrerin ist, aus Neuchâtel stammt und »zu seinem großen Vergnügen, da es ihr einen ganz entzückenden Anschein verlieh« schlecht Deutsch sprach. »Was also lag näher, als ihr ein Buch zu leihen, um ihr so Gelegenheit zu geben, diese Sprache zu erlernen – und sie so zum Wiederkommen zu animieren.«
Und wir schweifen gedanklich in das Frühjahr und den Sommer 1905 ab – so lange her, dass es wie ein Traum erscheint –, sehen, wie ein junger Mann einer jungen Frau hinterherspioniert, wie er sich hinter den Bäumen im Schlossgarten versteckt, um einen flüchtigen Blick auf das Aufblitzen ihrer Rockzipfel zu erhaschen, hören ihre im Flüsterton geführten Gespräche in der Buchhandlung, während die älteren, unverheirateten Damen sie besorgt belauern – wie man sich denken kann –, mussten sie doch mit ansehen, wie »ihr« junger Herr von einer Französin umgarnt wurde. Und als er
endlich all seinen Mut zusammengenommen und sie gefragt hat, ob sie ihn zur jährlichen »Maifeier« des Handwerksvereins begleiten möchte – auf der alle » Der Mai ist gekommen, die Bäume schlagen aus « singen und ihm vom Wein und den ihn ansehenden »lieben, frohen Mädchenaugen« ganz warm ums Herz wird, als ihr Kopf auf der Heimfahrt in der Kutsche auf seine Schulter sinkt und die Höflichkeit gebietet, dass er sie umarmt –, ja, da war die Sache klar: »Und dann kam das, was kommen musste, wenn die Weltgeschichte überhaupt irgendeinen Sinn haben soll: Frage und Antwort und Verlobungskuss. Wie ich nach Hause gekommen bin, kann ich kaum sagen.«
Ach, wie romantisch – um bei der Wahrheit zu bleiben, lagen zwischen »Der Mai ist gekommen« und der Heimfahrt im Wagen jedoch mehr als zwei Monate; es dauerte also zwei Monate, bis geküsst werden durfte – aber jetzt, ja jetzt sind sie also verlobt; die Würfel sind gefallen. Und das war für Leute wie Fritz und Emilie damals, wie gesagt, keine unbedeutende Angelegenheit, erforderte das doch Esszimmermöbel, Porzellanservice, vollgestopfte Wäscheschränke und eine Wohnung mit Mädchenkammer – wenn der gute Fritz da nicht die ganze Nacht wach gesessen und sich gefragt hat, worauf um alles in der Welt er sich da eingelassen hatte.
Die Russische Revolution 1905
Zur selben Zeit, als diese beiden jungen Menschen einander vorsichtig tastend näherkommen, bis Emilie triumphierend hinausposaunt, dass sie sich verlobt hat, fand um sie herum die Erste Russische Revolution statt, die mit jenem Blutsonntag im Januar 1905 in Sankt Petersburg ihren Anfang nahm. Wenn ich an die Hintergründe erinnern darf, so handelte es sich um eine tief verwurzelte Unzufriedenheit mit dem unzeitgemäß autokratischen und absolutistischen Zaren – eine Unzufriedenheit, die sich in den neuen Industriezentren
unter den in geheimen sozialistischen Verbänden organisierten Fabrikarbeitern ausbreitete (jetzt wurde der Bolschewismus geboren), aber auch in hohem Maße unter den jungen russischen Intellektuellen. Man träumte von einer demokratischen Verfassung mit einer gesetzgebenden Versammlung und einem Zar mit einer eingeschränkten Machtfülle – und ein Teil träumte natürlich auch den Traum vom Sozialismus und völliger sozialer Gleichheit. 1902 und 1903 fanden große Streiks statt, die zu den auslösenden Faktoren gehörten, wie auch der russisch-japanische Krieg von 1904-1905, den die Russen zu ihrem Erstaunen keineswegs gewannen, sondern der im Gegenteil immer mehr Geld und Soldaten verschlang. Bei den Demonstrationen in Sankt Petersburg, zu denen sich über hunderttausend Menschen versammelt hatten, ging es um Freiheit und Brot: um niedrigere Lebensmittelpreise, höheren Lohn und einen Achtstundentag, ein allgemeines und gleiches Wahlrecht bei Wahlen zu einer gesetzgebenden Versammlung – wir würden Parlament dazu sagen.
Die Revolution begann relativ spontan und friedlich an jenem kalten Sonntag, dem 9. Januar (entsprechend der alten russischen Zeitrechnung nach dem Julianischen Kalender, nach unserer war es der 22. Januar). Sie wurde brutal vom Militär niedergeschlagen, das in die dichtgedrängte, vor dem Winterpalast stehende Volksmenge hineinschoss. Wie viele dabei genau starben, ist ungewiss, aber es hat sich mit
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