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Meine Mutter, die Gräfin

Meine Mutter, die Gräfin

Titel: Meine Mutter, die Gräfin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yvonne Hirdman
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ein, um sich vor den Augen der besiegten, armen Menschen dumm und dusselig zu kaufen – der Journalist mit dem Kürzel » PAN « empörte sich in der überregionalen schwedischen Zeitung Dagens Nyheter über die Gierigkeit seiner Landsleute: »Man breitet sich aus, man tut sich gütlich und stellt am Warentresen nach reiflicher Überlegung seine eiligen Berechnungen an, multipliziert und dividiert und verschiebt das Dezimalkomma um zwei Stellen, um sie schlussendlich nonchalant in Tausendern rauszuholen.«
    Deutschland – bleiche Hure

    »Sie liegt still an meiner Seite. An den offenen Läden flackert der laue Nachtwind.
     – Du zitterst.
     – Schließ die Läden, bitte.
     – Das Singen auf der Straße?
     – Der Frost.
     – Was hast du, Liebes?
     – Werden die Toten in Särgen begraben, draußen?
     – In Zeltdecken.
     – Immer?
     – Im Massengrab nicht.
     – Ich hab so Angst vor der unentrinnbaren Kälte. Daß auch dieses stirbt, dies bißchen gute Wärme.
     – Umarm mich.
     – Ich liebe dich.
     – Mein Freund ist gefallen vor Verdun.«

    Wie sollte sie es nachvollziehen? Sie würde es niemals nachvollziehen können. Trotz der vielen verzweifelten Kriegsschilderungen, in denen die jungen Männer versuchen, das
in Worte zu fassen, was man nicht in Worte fassen kann. Es ist Ernst Toller, der hier von Eiseskälte spricht. Ein anderer war Erich Maria Remarque mit seinen Büchern über die Westfront und die Heimkehr. Sogar Alexander schreibt in Freiwilliger Stenbock. Bericht aus dem baltischen Befreiungskampf über »seinen Krieg«. Nach dem Krieg gab es ein enormes Bedürfnis, davon zu erzählen – wie von einer langen, schrecklichen Reise –, um es den Menschen zu Hause mitzuteilen, es ihnen begreiflich zu machen. Wie ist das gewesen? Was ist passiert?
    Es sind Geschichten über Jünglinge, die manchmal nicht älter als fünfzehn, sechzehn waren, sich aber freiwillig – trunken von ihren Träumen, ihrer jungen Männlichkeit – in den Krieg stürzen. Raus wollen sie, raus um jeden Preis:

    »Am nächsten Morgen melde ich mich bei der Artillerie an, der Arzt untersucht mich, schüttelt den Kopf, ich habe Angst, daß ich nicht angenommen werde, ich sage der Augenschein trügt, ich bin stark und gesund, ich muß angenommen werden. Ich will in den Krieg. Der Arzt lächelt gutmütig, ich bin angenommen.«

    Aber dann folgt die Geschichte des Martyriums:

    »Eine Nacht hören wir Schreie, so, als wenn ein Mensch furchtbare Schmerzen leidet, dann ist es still. Wird einer zu Tode getroffen sein, denken wir. Nach einer Stunde kommen die Schreie wieder. Nun hört es nicht mehr auf. Diese Nacht nicht. Die nächste Nacht nicht. Nackt und wortlos wimmert der Schrei, wir wissen nicht, dringt er aus der Kehle eines Deutschen oder eines Franzosen. Der Schrei lebt für sich, er klagt die Erde an und den Himmel. Wir pressen die Fäuste an unsere Ohren, um das Gewimmer nicht zu hören, es hilft nichts, der Schrei dreht sich
wie ein Kreisel in unseren Köpfen, er zerdehnt die Minuten zu Stunden, die Stunden zu Jahren. Wir vertrocknen und vergreisen zwischen Ton und Ton.«

    Und nach diesem Martyrium in der Fremde, in der sich die Heimat, die Mutter, die Freunde, die nicht mitgekommen waren, das Mädchen, von dem man geträumt hatte, zu Bildern und Gestalten aus einem Albtraum entwickeln – alle und alles ist da, alles ist wie immer, und doch ist alles irgendwie verdreht, alles fremd – nach diesem Martyrium sind sie da: die Mädchen. Ihre warmen Körper spenden Trost, stellen aber zugleich ein Risiko dar – was geschieht, wenn die doch so nötige innere Starre aufgeweicht wird? Wenn es ihre eigene Kälte ist, die sie erzittern lässt, ihnen die Wärme raubt?
    Dann sind sie da: die Mädchen. Und ihre Körper – früher noch von Normen, durch Konventionen, lange Röcke und geschnürte Korsetts geschützt – sind jetzt unter den schlichten, geraden Kleidern und den immer kürzeren Röcken leicht zugänglich. Und ausgerechnet die Frauen, die zum Krieg der Männer nur mit Enthusiasmus oder Tränenvergießen beigetragen haben, ausgerechnet die Frauen, die jetzt – »unbeschützt« – dastehen, sollen nun die neue Zeit, den Verlust der alten Ordnung, ja, das neue Germania symbolisieren – das nicht länger nur die lilienweiße, abgestürzte und blutige Jungfrau ist, sondern vielmehr etwas für die Männer aus Ehrhardts Freikorps, die sich Hakenkreuze auf die Helme gepinselt haben: die Rote Pest.

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