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Meine Mutter, die Gräfin

Meine Mutter, die Gräfin

Titel: Meine Mutter, die Gräfin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yvonne Hirdman
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ganzen verfluchten Blutegel zum Teufel gejagt und nun herrscht dort das freie Proletariat.«
    »Du scheinst dir ja eine merkwürdige Vorstellung von Rußland zu machen!«, ergreift Alexander wieder das Wort. »Die Broschüren, die du liest, haben ja wohl das Blaue vom Himmel herunter gelogen! […]« Und Alexander schildert den weiteren Verlauf des Gesprächs folgendermaßen: »Und nun sprach ich über den Bolschewismus aus eigener Erfahrung: schilderte […] den Jubel der Bevölkerung, wenn die Weiße Armee als Befreier kam, über den Terror der Bolschewisten.«
    Franz aber murmelt mit gesenktem Kopf vor sich hin, dass das ja Mist, ja Mist sei und es ohne Blutfließen eben nicht abgehen könne, mit Sammetpfötchen könne man eben nicht regieren … und dann ist die Frühstückspause vorbei.

    Meine Erlebnisse als Bergarbeiter war Alexander Stenbock-Fermors erstes Buch, das mehr war als nur die journalistische Reportage eines dramatischen Zeitabschnittes. Es wurde von einem Autor, einem richtigen Geschichtenerzähler geschrieben, sodass man sich davor hüten sollte, alles für bare Münze zu nehmen, schildert er doch das Drama seiner selbst: Wie wird es dem jungen, armen, aber freien Aristokraten in dieser schrecklichen Tretmühle ergehen? Wird er es durchstehen? Das wird er. Wird er beharrlich an seinen rechtskonservativen Vorstellungen festhalten? (Und stellt er nicht doch einen dummdreisten, wenngleich mannhaften Mut zur Schau,
wie uns, dem Leser suggeriert wird, wenn wir von seiner ersten Begegnung mit Franz oben lesen?) Nein – ihm bleibt die Not nicht verborgen, er hört den vorgebrachten Argumenten zu, vielleicht nicht unbedingt Franz' oberflächlicher Analyse, sondern den Argumenten einer intelligenteren Person, eines Heinrichs, des zweiten Helden – und bezieht Stellung für die Linke. Und er setzt sich selbst in Szene – der junge Mann, der an seinem einzigen freien Tag lieber Nietzsche liest, als wie die anderen Grubenarbeiter, die Kumpels, auszugehen und sich zu besaufen.
    Was weiß ich nicht alles über diesen Alexander! Er verfasste ja noch weitere Bücher, vor allem die Autobiografie Der rote Graf , die in den 70er Jahren in der ehemaligen DDR erschien. Ja, alles weiß ich; alles über seine Gedanken, über die Gespräche, die er mit seinem konservativen Vater geführt hat, wie er in Hamburg ein Schwitzbad nimmt und – um auf das Inflationsjahr 1922/1923 zurückzukommen – wie er die Besetzung des Ruhrgebiets erlebt.
    Ja, jetzt geht die Post ab, Gräflein, verflucht nochmal! Und Alex folgte seinen Freunden – er unterstützte den Generalstreik hundertprozentig. So beschreibt er den Massenprotest vorm Hamborner Rathaus, und man stelle sich vor, wie sich die Menge verdichtet:

    »[…] eine dumpfe, wütende Erregung lag in der Luft, die sich von Sekunde zu Sekunde steigerte. Die Masse übt eine merkwürdig hypnotische Wirkung auf jeden einzelnen aus, jegliches individuelle Gefühl stirbt, jeder fühlt sich restlos aufgesogen von einer starken Macht. Die ›Masse‹ bildet ein Wesen für sich mit eigener Seele, eigenen Empfindungen und eigenem Wollen, gänzlich unabhängig vom einzelnen Glied. Das hysterische Wutgekreisch eines Weibes kann die Masse in rasende Wut bringen und sie zu sinnlosesten Gewalttaten reißen – wobei die ein
zelnen Menschen noch so friedfertig und gutmütig sein mögen – das Lachen eines Kindes oder ein Witzwort sind imstande, die größte Wut sofort zu dämpfen.«

    Die Frauen sind in seiner Schilderung eine Masse für sich, ihre Hysterie eine Massenhysterie. Daneben beschreibt er die Frauen so, dass einem die Bilder von Käthe Kollwitz in den Sinn kommen: Ausgehungerte, magere, gelbhäutige Frauen. Man hat sie in diesem Massenauflauf strategisch zuvorderst platziert; sie sollen eine Petition überreichen, und auf sie wird das Feuer eröffnet, als sie versuchen, die Absperrungen der Polizei zu durchbrechen. Mit kaltblütigem Kalkül haben die Kommunisten das in Kauf genommen oder gar geplant, um Märtyrer zu schaffen, wie er, Alexander, festhält.
    Die Demonstration, die mit einem Blutbad endete, war nur eines der Ereignisse, die auf den Einmarsch der französischen und belgischen Truppen ins Ruhrgebiet – »mitten ins Herz der reichen deutschen Kohle-, Eisen- und Stahlregion« – folgten. Streiks bildeten die Nachhut, sodass Streikbrecher – französische und belgische Arbeiter – eingesetzt wurden. Der passive Widerstand wurde gebrochen. Dramatisch erzählt Stenbock

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