Meine Mutter, die Gräfin
und sagte: Hast du nicht gesagt, du hättest keine Schuhe?! Ich hatte nämlich meine Lackschuhe angezogen. Sie war sehr böse, und ich wäre am liebsten zu Hause geblieben. Ein paar Tage lang hat sie kein Wort mehr mit mir gewechselt, aber jetzt ist wieder alles gut.
Gestern war ein sehr unangenehmer Tag. 1. war Vorspielabend und ich musste vorsingen [?] (es ist aber recht gut gelaufen), 2. bin ich hingefallen und habe dabei ein Paar Strümpfe kaputtgemacht und acht Teller zerbrochen (ich hatte nämlich den Tisch gedeckt) und mich an den Scherben geschnitten. Aber zum Glück nicht so stark.
Heute war Handarbeitsausstellung. Ich hatte leider nur die Strickdecke und ein Tablettdeckchen dafür.
Heute habe ich keine Rhythmische Sportgymnastik mitgemacht, weil ich so viel in der Küche zu tun hatte, denn die Mutter von unserer Köchin ist sehr krank. Sie ist nach Hause gegangen und wir mussten das Abendbrot vorbereiten. Ich glaube, dass die Mutter der Köchin bald sterben wird. Einige Mädchen haben sehr schöne Handarbeiten gemacht. Zu Ostern werde ich auch viele hübsche Decken fertig haben. Mitzi hat noch eine Strickdecke angefangen. So eine möchte ich auch machen, allerdings habe
ich kein Garn mehr. Die Klavier-, Gymnastik- und Stenografiestunden haben alles aufgefressen. Die Reparatur meiner Schuhe hat 600 Mark gekostet und die Wäsche 460. Ein Knäuel Häkelgarn kostet 430 Mark, und auch die anderen Sachen werden von Tag zu Tag teurer. Bei Fräulein Gruder habe ich noch 18 819 Mark deponiert, aber davon muss ich noch meine Unterhaltskosten für das letzte Vierteljahr nachzahlen. Sie wird mir dann die Quittung geben. Die Tanzstunden, die zwischen Weihnachten und Ostern stattfinden, kosten auch noch einmal 1500-2000 Mark.
Bitte schreibt mir recht bald! Leni soll mir auch schreiben, sie schreibt immer so nett. Bitte seid nicht böse, dass ich so selten geschrieben habe. Hat Otto mal etwas an mich geschrieben? Ich weiß gar nicht, was er so macht.«
So also schreibt sie, die Sechzehnjährige, die Weihnachten ganz allein mit alten Fräuleins feiern muss, weil sie von ihrer Mutter – dessen bin ich mir jetzt fast ganz sicher – dorthin geschickt wurde, um von Verlobungen und Professoren wegzukommen. Und die Inflation hat sicherlich auch eine Rolle gespielt. Sie können es sich leisten, ihr einen einjährigen Aufenthalt dort zu finanzieren. Vielleicht hat ihr Vater sie ja nach Weimar begleitet und sich dort für seine rumänischen Lei, die mit einem Mal Gold wert waren, ein Auto gekauft. Was weiß ich.
Es scheint sich um ein altmodisches Pensionat gehandelt zu haben, denn sie wird anscheinend streng überwacht – ein Ort, an dem anscheinend noch Zustände wie vor dem Krieg herrschen, ein Ort, an dem Emilie ihre älteste Tochter sicher aufgehoben weiß. Natürlich tanzt sie in Weimar – allerdings nicht so, wie ich dachte. Sie ist ja noch so klein! Und so verletzlich und einsam kommt sie mir vor – soll sie wirklich das ganze Weihnachtsfest allein dort verbringen?
Das muss sich doch um eine Strafe gehandelt haben? Oder vielleicht doch nicht? Wo sie doch ihre Auslagen bestreiten?
Erneut lese ich die Stichworte, die sie als Gedankenstütze auf einen Zettel gekritzelt hat. Wahrscheinlich 1933 im Exil in einem Züricher Café. Schreibt man sie übereinander, entsteht ein Gedicht:
Flegeljahre
Mama weg
Papa
Professor
Pensionat
Tanz …
Kleinstadtgefühl
Flegeljahre: Wie habe ich dieses Wort gedreht und gewendet! Wie , ja, wie konnte man nach dem Krieg in der Kleinstadt Radautz, ehemals Österreich-Ungarn, jetzt Rumänien, ein »Flegel« sein? Wenn sie ein Junge gewesen wäre, wäre das leichter nachzuvollziehen, da hätte sie vielleicht angefangen, sich zu »amüsieren«, hätte Bordelle aufgesucht, sich betrunken, geraucht, ihre Ausbildung über Bord geworfen und bohemienartige Träume von einem Leben in »Freiheit« geträumt – ach ja, all dieses flegelhafte, entzückende Beiwerk.
Nun ist sie jedoch ein reizendes junges Mädchen, das aus einem kleinbürgerlichen, gebildeten Zuhause stammt, einem liberalen Zuhause, wo Bücher gelesen werden, Theater gespielt, Klavier gelernt und das Gymnasium besucht wird, um sein Abitur zu machen. Flegel sind zweifelsohne nur Jungs, Mädchen sind keine Flegel – sie sind slampor – Schlampen. Meine Mutter nannte uns in Malmberget, unserem schwedischen Zuhause, slampiga . Daran kann ich mich tatsächlich
noch erinnern. Ich hab es damals wie eine Schwedin
Weitere Kostenlose Bücher