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Meine Mutter, die Gräfin

Meine Mutter, die Gräfin

Titel: Meine Mutter, die Gräfin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yvonne Hirdman
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davon, wie der Hunger und die Hungersnot die Männer wieder in die Grube zwangen – gegen einen niedrigeren Lohn. Der Widerstand wurde im September 1923 gebrochen, aber die Besatzungstruppen zogen erst im Herbst 1925 ab.
    Die Hyperinflation
    Und im selben Jahr noch, 1923, zieht auch die unglaubliche, katastrophale, die allesumwälzende deutsche Inflation an. Die Inflation, die aus Geld Papier macht, Vermögen zu Kleingeld, Vertrauen zu Fatalismus, Armut zu Not – und anderen wiederum die Gelegenheit bietet, unverschämt, ja ge
radezu unanständig reich zu werden. Die Welt stand kopf, alles floss. Seit Frühjahr und vor allem ab dem Sommer 1923 entwertete sich das Geld in einem atemberaubenden Tempo. Ende März 1923 stand der Dollar bei 1 000 Goldmark, Ende Juli bei über 1 Million. Ende September bei 160 Millionen, am 10. Oktober bei 1 Milliarde, am 19. Oktober bei 12 Milliarden und am 1. November bei 130 Milliarden. Die Nullen wuchsen ins Unermessliche und verloren jegliche Bedeutung: Von 1 000 auf 10 000 auf 100 000 auf 100 000 000 auf 100 000 000 000 usw.
    »Was muss man heute bezahlen?«, war die Dauerschlagzeile auf den Titelblättern. Ein halbes Kilo Butter, oder – welch Glück! – ein frisch geschlachtetes Schwein, das war ein Wert, den es zu hegen und pflegen galt. »Ein frisch geschlachtetes Schwein«, wie der Autor Hans Ostwald in seinem Buch Sittengeschichte der Inflation von 1931 erzählt, »wurde in alte Weiberkleider gesteckt, in einen Wagen gesetzt und im Dunkeln in die Stadt gefahren. Kam dann ein kontrollierender Landjäger oder Polizist und fragte, was im Wagen sei [und hier setzt Ostwald selbstverständlich voraus, dass wir um das Unerhörte wissen: dass frisch geschlachtete ganze Schweine Kontrollen unterzogen wurden, dass das ganze Fleisch penibel rationiert und jegliches Hamstern verboten war], dann antwortete der neben dem verkleideten Schwein Sitzende: ›Ach Großmutter ist krank geworden. Wir wollen sie ins Krankenhaus bringen!‹ … Und so verschwand das verkleidete Schwein in der Dunkelheit, wurde zerlegt und brachte einem kurzfristig ein Vermögen ein.«
    Überall versucht man zu überleben, überall versucht man sich zu bereichern – nicht nur durch Hamstern, sondern in erster Linie durch Spekulationen: durch Kredite, durch den Ankauf und Verkauf von Dingen, Rückzahlung von Krediten; durch verschiedene Arten von Glücksspielen (etwa so wie das Pyramidenspiel in Rumänien nach dem Zusammen
bruch der Sowjetunion 1989) und diverse Tauschgeschäfte, das eine ausgebuffter als das andere. Eine Rasur kostete ein Ei, ein Haarschnitt vier – zum Beispiel. Die gebräuchlichste Form der Bezahlung in Naturalien war vielleicht die Prostitution – der Körper der Frau ist ihr Kapital.

    Wenn die Gesellschaft auf den Kopf gestellt wird – wenn das Unterste nach oben gekehrt wird, ja, dann sind immer irgendwie »Frauen« mit im Spiel. Dann hat nichts mehr eine Ordnung. Als Friedrich Engels in den 1840er Jahren gegen das kapitalistische System in England polemisierte, waren es »Frauen«, die den Zündstoff für seine Agitation lieferten: Mädchen, die in das Elend der Lohnarbeit und sexuellen Ausbeutung gestürzt wurden – das eine führte oft zum andern –, während die Männer ihre Arbeit verloren, weil die Käufer der Arbeitskraft die schlechtere, die billigere Sorte vorzogen: Frauen. Alles wurde »auf den Kopf gestellt«, so Engels. Als die Crux der Inflation illustriert werden sollte, mussten auch die »Frauen« dafür herhalten. Einerseits als Opfer, andererseits als plakatives Beispiel für unmoralischen Reichtum, der das ehemalige Lumpenproletariat, einfältige Schwindler und obskure Personen auf die neuen, funkelnden Zinnen des Reichtums gehoben hatte. Das junge, hübsche Mädchen mit der Bubikopffrisur und den immer kürzeren Röcken war für diese gewissenlosen Schweine einerseits Beiwerk und gleichzeitig zu einer Art Symbol, ein Bildnis dieser verdrehten Welt an sich geworden. »Valutamädel« war der Name für die Mädchen, die sich nun in den schicken Luxusrestaurants um die Ausländer, am liebsten um die Amerikaner, scharten. »Hier mahlzeiten die Sieger, die Amerikaner. Heil ihnen!«, schreibt Ostwald. »Ihrem Griff in den Krieg danken wir den Frieden (wenn auch einen mit vierzehn wunden Punkten), Dollarpakete, Demokratie, Ausspeisung. We are loving America .«
    Und die Ausländer konnten sich wie die größten Valutaschweine aufführen. Auch die Schweden fielen in Berlin

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