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Meine Mutter, die Gräfin

Meine Mutter, die Gräfin

Titel: Meine Mutter, die Gräfin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yvonne Hirdman
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Für sie, so schreibt Klaus Theweleit in seinem Buch Männerphantasien , für sie hat sich die »reine Mutter Deutschland« in eine riesige Hure verwandelt, in einen Hurenkörper wie ein Sumpf, aus dem alles gleichsam herausfließt. Er zitiert einen jener Freikorpsmänner, die das Berlin von 1919 beschreiben:

    »Die Rote Flut ist hier, einstweilen, in einen schillernden Sumpf zusammengeronnen und die Najaden, die diesem Sumpf entsteigen, schrecken nicht zusammen, wenn die zwinkernden Sieger bei verschwiegenen Festen mit den knallenden Champagnerpfropfen auf die Tanzenden in puris naturalibus zielen und das Echo an die blutigen Schüsse zu Weihnachten lachend parodieren.«

    Ja, Theweleit: In zwei dicken, in den 70er Jahren erschienenen Büchern hat er eine ungeheure Menge an Memoiren, Romanen und Autobiografien aus der Zeit um den Ersten Weltkrieg ausgewertet, um nach dem Grund, der Ursache für den Nationalsozialismus zu forschen. Und auch wenn man seiner besessenen Freud'schen Analyse von Krieg und deutscher Männlichkeit – in der die Angst vor der Sexualität für die Männer der Freikorps und ihr Handeln die Triebkraft darstellt, aus deren Kinderkörpern schon vor langer Zeit Körperlichkeit und Empfindsamkeit gepeitscht worden sind und wo die einzigen »echten« Frauen die »reinen«, toten oder abwesenden Frauen waren – nicht bedingungslos zustimmen mag, so kann man sich dennoch nicht gegen diese Masse an Zeugnissen und Empirie wehren, die er in Form von Worten – und Bildern – über uns ergießt. Wie zuvor schon der Psychoanalytiker Wilhelm Reich (der aus der Bukowina stammte) ist er der Ansicht, dass gerade die sexualfeindliche Erziehung, die Schwarze Pädagogik, die Schläge, die Züchtigung die stärkste Triebfeder für den Ersten Weltkrieg und dessen schrecklichste Folge – den Nationalsozialismus – darstellten.
    Und die Inflation, die die Welt mit wachsenden Nullen füllte, die dem anständigen Bürgertum ihr Vermögen, ihre Würde und ihre normative Überlegenheit raubte, die verhinderte, dass das angeschlagene Nachkriegsdeutschland wieder auf die Beine kam, ebendiese Inflation gab dem Frauenhass
neue Nahrung. Seltsame Dinge gingen vor sich, wie der Chronist der Inflation, Hans Ostwald, schilderte: Alle hätten getanzt – was während des Krieges verboten gewesen sei –, Großmütter, Mütter, kleine Mädchen. Überall sei getanzt worden. Man habe getanzt. Wie meine Mutter – auch sie hat getanzt.
    Lottie in Weimar
    Ja, während Alexander sich als Bergarbeiter in Hamborn abrackert, schwingt Lottie in Weimar das Tanzbein. 1922-1923 wohnt sie in der Stadt der Verfassung, der Kleinstadt, Goethes Stadt, der Kopfsteinpflasterstadt. In dem Weimarer Pensionat, in das sie als Sechzehnjährige geschickt wurde. Ich bin gedanklich noch so in der Welt dieses erbärmlichen Nachkriegsdeutschlands gefangen, dass ich sie mir fast als eine dieser »neuen Frauen« der Weimarer Republik vorstelle und mir für sie ein fast verlockendes Umfeld ausmale – bestehend aus einem etwas anrüchigen Pensionat, Ausgehabenden, Seidenstrümpfen und Zigaretten –, bis ich den Brief finde. Und zum ersten Mal ihre Stimme höre. Ich höre sie durch Jahrzehnte hindurch, aus dieser kleinen, beengten Welt eines Mädchenpensionats, wo die Fräuleins das Zepter in der Hand halten und ein Tag dem anderen gleicht – die Stimme, die vom Heimweh dieser jungen Frau erzählt:

    Weimar, den 14. 12. 1922
    »Meine lieben Eltern!
    Mit dieser feierlichen Anrede eröffne ich meinen Brief. Ist es nicht nett von mir, dass ich Euch, obwohl Ihr mir nichts geschrieben habt, schreibe? Hier wird es allmählich still, denn die Mädel fahren nach Haus. Die Nikolausfeier am Sonntag war sehr nett, und ich habe einen kleinen Marzipankuchen bekommen, weil ich immer so einen Hunger habe. Frehos Papa [?] war auch da, und ich
bin mit ihnen ins Café gegangen. Allerdings hatte ich gar nichts von dem ganzen Tag, weil ich eine große Dummheit begangen hatte. Und das kam so: Es war ein sehr kalter Tag und wir sollten spazieren gehen. Ich habe mich bei Fräulein Hauser entschuldigt, gesagt, dass ich meine Schuhe beim Schuster hätte. Da hat sie gesagt, dass das natürlich nicht gehe und ich dafür doch wenigstens ein Paar heile Schuhe bräuchte. Also bin ich nicht mitgegangen. Am Nachmittag wurde ich aber, wie gesagt, von Freho [?] eingeladen, und habe nach einigem Zögern zugesagt. Als ich mich angezogen hatte, stand plötzlich Fräulein Hauser vor mir

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