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Meine Mutter, die Gräfin

Meine Mutter, die Gräfin

Titel: Meine Mutter, die Gräfin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yvonne Hirdman
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(die ich ja war) aufgefasst und fand es schrecklich, dass sie uns als Schlampen bezeichnete. Aber auf Deutsch ist das ja gar nicht damit gemeint – da bedeutet das ja vielmehr so etwas wie Schusselchen. Behauptet Eili. Ist es so?

    Die sechzehnjährige Charlotte mit Freunden und Bekannten.
    Aber ich will diesem Wort nicht zu viel Bedeutung beimessen. Vielleicht meinte sie ja Rebellin – sie revoltiert gegen die Schule, fängt irgendwann als Teenager offenbar mit dem Rauchen an. Vielleicht hat sie sich auch auf etwas frivolere Art gekleidet? Hosen getragen? Womöglich ist sie gar abends mit ihren Freundinnen – und Freunden – losgezogen? Sie war bestimmt vielumschwärmt. Sie verlobt sich, sie bricht die Verlobung. Oder übernimmt das ihre Mutter?
    Während Alexander Worte hinterlässt, hinterlässt meine Mutter Fotos. Beides gaukelt einem wohl gleichermaßen etwas vor. Worte wie Fotos präsentieren glatte Flächen. Womöglich sind Fotos noch schlimmer – Stillleben eines Idylls. Ich habe eine wunderbare Aufnahme von 1922 entdeckt, eine etwas zerfledderte, verschwommene und dunkle Aufnahme.
Vergrößert man sie jedoch, wimmelt sie plötzlich geradezu vor Leben: Da sieht man die sechzehnjährige Lottie mit einem Haufen Jugendlicher auf einem Karren sitzen – neun junge Männer, von denen einer ganz hinten Faxen macht, während die anderen männlich-ernst dreinschauen. Zwei von ihnen haben ein Fahrrad (scheint ein männliches Attribut gewesen zu sein, denn Mama ist nie Rad gefahren). Daneben sind acht lächelnde Mädchen zu sehen. Lottie sitzt natürlich in einem Dirndlkleid und mit einem nonchalant ums Haar geschlungenen Kopftuch ganz vorn und wird von den jungen Männern umringt, als eiferten sie um ihre Gunst. Wohin sie wohl unterwegs sind? Was haben sie vor? Posieren? Oder brachen sie auf zum Wandern, Picknicken, Spielen, Tanzen, Theaterspielen, Flirten, Küssen und Gedichteschreiben?
    Und hier – auf einer anderen Fotokarte, die eine Badestelle zeigt –, hier erhascht man einen Blick auf die Umkleidekabinen für die Damen und Herren. Ein junger Mann lugt vergnügt hinter einer Damenumkleidekabine hervor, während ein anderer elegant auf seinem Fahrrad balanciert und die Mädchen posierend im seichten Wasser sitzen. Leni halb liegend und meine Mutter mit einem Kopftuch im Zwanzigerjahremuster um den Kopf drapiert – und wie immer ist sie der strahlende Mittelpunkt des Bildes. Auf die Rückseite hat sie geschrieben: »Gefällt Dir das, was Du siehst? Bald kann ich prima tauchen!«

    Lottie mit Leni und Freunden an der Badestelle.

    Und dann hätten wir da noch diese Aufnahme vom Badevergnügen, das ebenfalls von einem unbeschwerten Leben zeugt – von einem fröhlichen Dasein mit Sommer, Sonnenschein und Bädern, und ja, siehe da, da haben sie sich alle in drei Reihen am Ufer aufgestellt, zu einem richtigen Gruppenfoto – eigenartig, wie es meiner Mutter auch auf diesem Bild gelingt, so präsent zu sein. Leni – erneut halb liegend – hat
keine Chance gegen sie, auch wenn sie noch so lächelt. Hinter Mama, die einen nassen, sich an den Körper schmiegenden Badeanzug trägt und eine Zigarette in der Hand hält – sie hat also nicht bloß heimlich geraucht –, stehen vier Männer, die wieder den Eindruck erwecken, als buhlten sie um die Gunst der schönen Lolotte. Und da schau an – wenn das nicht Fritz ist, der da mitten unter den Jugendlichen sitzt! Von Emilie ist hingegen nichts zu sehen.

    Lottie, Leni und Fritz mit Jugendlichen beim Sonnenbaden.

    Dafür meine ich Emilie im Hintergrund der vier Atelieraufnahmen auszumachen, die ungefähr zur selben Zeit entstanden sein müssen. Die eine ist vermutlich von 1922; das kindlich gerundete Gesicht sieht nach dem einer Fünfzehn- oder Sechzehnjährigen aus. Auf dem Bild trägt sie einen großen Samthut, dessen Krempe umgeschlagen ist – ein Hut, der noch aus der Vorkriegszeit stammt. Ihr Haar ist unter dem Hut versteckt, die Aufnahme zeigt sie im Halbprofil und ihr Mouche auf der linken Wange wurde nicht vom Fotografen wegretuschiert. Die anderen Bilder, die bei Kleinberger in Cernăuţi (wie Czernowitz jetzt heißt) aufgenommen
wurden, sind im August 1922 entstanden – genau einen Monat vor Lotties Abreise nach Weimar, wo aus ihr eine »neue Frau« werden sollte. Dieses Bild zeigt jedoch noch die »alte Frau«, die Frau aus der Vorkriegszeit, die ihre dunklen Haare noch zu einem weichen und tief angesetzten Knoten geschlungen hat, der ein Gleichgewicht

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