Meine Mutter, die Gräfin
Sonnengebet des heiligen Franziskus vor und verneigte sich tief in alle Himmelsrichtungen. Stenbock war ergriffen:
»Ich hatte mir vorgenommen, Distanz zu halten, skeptisch zu bleiben. Es gelang nicht. Auch meiner Freundin nicht, die gern spottete. Sie flüsterte mir zu: Eugen Diederichs wirke keinen Augenblick deplaziert, komisch. Er erscheine einfach als Magier, mit den angerufenen Mächten auf du und du.«
Und Diederichs, ja Diederichs schwenkt seine Löwenfahne und ruft zum Feuertanz auf, sodass alle im Kreis um das Feuer tanzen, und dann, als es niedriger brennt, springen sie über die Glut – und da, seht da, da springen auch Lottie und Alexander Hand in Hand übers glimmende Feuer. Sie sollten die ganze Nacht aufbleiben.
»Meine Freundin wärmte mich. Beim Sonnenaufgang sahen wir die fernen Schlote von Jena, graue Ruinen auf grünen Bergen, dunkle Wälder, blumenreiche Täler, die glitzernde Saale, einen Kranz von Dörfern …«
Und was ist mit ihr? Wenn wir ein halbes Jahr zurückgehen, bis zum Monatsende des Januars 1927, finden wir den folgenden reizenden (?) kleinen Vertrag, der zwischen den Parteien Fräulein Charlotte Schledt einerseits und dem Grafen Alexander Stenbock andererseits geschlossen wird: Fräulein Schledt verpflichtet sich im Vorfeld des Maskenballs »Utopia«, Punkt 1: jeden 6. Tanz mit dem Grafen A. Stenbock-Fermor zu tanzen; Punkt 2: beim Tanzen jegliche Form von Missmut zu unterdrücken – so gut es gehe.
Der Graf seinerseits gelobt dann, Punkt 1: jegliche Form von Eifersucht, Zorn, schlechter Laune, Unmut, Boshaftigkeit und Untreue zu unterdrücken, sowie Punkt 2: Fräulein Charlotte Schledt an jenem Abend jegliche Freiheiten zu gestatten.
Sollte dieser Vertrag gebrochen werden, erhielte die benachteiligte Partei ohne Weiteres das Recht, von entsprechenden Vergeltungsmaßnahmen Gebrauch zu machen.
Hinkt da nicht was? Ihre Selbstverpflichtung lautet, mit ihm zu tanzen und keinen Missmut zu zeigen – warum sollte sie missmutig sein? Traurig? Seine Selbstverpflichtung hingegen lautet, seine schlechte Laune zu zügeln, nicht boshaft, ärgerlich, zornig, eifersüchtig oder untreu zu sein. Warum
sollte er boshaft oder zornig sein? Oder untreu? Könnte ihr Missmut etwas mit seinen Freiheiten und seinem Zorn zu tun haben? Weitere Hinweise: Auf dem Zettel, auf den sie 1933 Stichworte für eine Art Autobiografie gekritzelt hat, finden sich folgende Notizen, die – wie sie sich wahrscheinlich gedacht hat – vielleicht ein Kapitel bilden könnten:
1926-1928
Brașov – Jena – Balten – Alexander – Prügel – Romantik – Theater – [unleserl.] u. Barfuss-Knochendöppel – Sonnenwende (sic) – Rechtsanwalts-Ehepaar – Annemarie – Arbeitslos
Zuerst ihre Arbeitsstationen Brașov (Kronstadt) und Jena, wo sie in baltischen Kreisen verkehrte und Alexander kennenlernt. Theater – so weit o.k. Etwas Unleserliches, bestimmt ein Name, der in Zusammenhang mit dem Namen Barfuss-Knochendöppel steht (ja, das stimmt, das steht wirklich so da), der – wie ich herausbekommen habe – ein Chemiker war, der etwas mit einem Artikel über Zinkoxid zu tun hat, der in den frühen 30ern veröffentlicht wurde. Wieder irgendeine Liebesgeschichte? Oder ein guter Freund? Was Sonnenwende zu bedeuten hat, wissen wir ja mittlerweile. Und das Rechtsanwalts-Ehepaar – wie auch Annemarie, bei der es sich um Annemarie Schwarzenbach handeln muss – sind Freunde, die sie in Jena kennenlernt und mit denen sie auch in Berlin Umgang pflegt. Was das letzte Wort heißt, ist auch völlig klar: arbeitslos. Aber diese drei Wörter in der Mitte – sie hallen wie ein Refrain in meinem Kopf wider: Alexander – Prügel – Romantik – Alexander – Prügel – Romantik – Alexander – Prügel – Romantik.
Zu jener Zeit war in Deutschland der »Prügelfreitag« ein feststehender Begriff; der Tag an dem die Männer, müde und
griesgrämig, unterbezahlt und betrunken, von der Arbeit nach Hause kamen und Schläge austeilten – in erster Linie an ihre Ehefrau und die Kinder. Institutionalisierte Misshandlung. Das Recht des Mannes, Prügel auszuteilen. Papa Fritz hatte Prügel ausgeteilt. Alexander auch? Was könnte es sonst heißen? Wenn ich es in den Zusammenhang mit dem Vertrag, den sie vor dem Maskenball geschlossen haben, stelle, ist die Sache so gut wie klar: Er, der Graf mit seinem hitzigen Temperament, soll sich beherrschen. Und sie soll nicht missmutig sein …
In Stenbocks Autobiografie gibt es
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