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Meine Mutter, die Gräfin

Meine Mutter, die Gräfin

Titel: Meine Mutter, die Gräfin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yvonne Hirdman
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eine Szene, die in meinem Gedächtnis haften geblieben ist. Sie handelt davon, wie der »verrusste« Junge (wie die Balten sagten) auf ein Internat in Thüringen geschickt wird, um Deutsch zu lernen:

    »Unvergeßlich – die erste Trennung von meiner Mutter. Ein sandiger Landweg, links weiter Wald, rechts die Häuser der Waldschule, drei Häuser im Jugendstil, durch Zwischengebäude verbunden. Die Sonne brannte unbarmherzig.
     Meine Mutter beugte sich noch einmal aus dem leichten Korbwagen. Der Kutscher riß an der Leine. Ich stand zitternd da, die Augen weit aufgerissen. Am Zaun der Schule warteten neugierige Zöglinge.
     Meine Mutter winkte weinend, der Wagen verschwand um die Ecke. Ich brüllte, gebärdete mich wie ein Wahnsinniger. Ich warf mich in den heißen Sand, schluckte Sand. Ein Lehrer, einige Schüler versuchten, mich ins Haus zu schleppen. Ich schlug um mich, biß, spuckte, heulte.«
    Die Verlobung
    Als Lottie Ende September, über acht Monate nach jenem Vertrag vom Jahresanfang 1927, nach Hause schreibt, ist ihren Zeilen zufolge jedoch alles eitel Sonnenschein – neben
einer kindischen Aufzählung, was sie alles zum Geburtstag bekommen hat: »Ihr seid sicher sehr erstaunt, dass Alexander mir eine Armbanduhr geschenkt hat, aber wir sind uns nun so nahe gekommen, dass wir uns gestern verlobt haben. Natürlich nur heimlich, nur unsere Bekannten wissen es. Hoffentlich seid Ihr nicht allzu überrascht und einverstanden. Es kam so rasch, dass ich Euch gar nicht darauf vorbereiten konnte. Bitte seid mir nicht böse!«
    Und sie fährt fort: »Ich hätte ja nie gedacht, dass ich Alexander lieb gewinnen würde, aber er war so hartnäckig und geduldig, dass er all meine Widerstände bezwungen hat.«
    Sie benutzt das Wort »bezwungen«, und in den letzten Zeilen des Briefes, den sie nach Hause sendet, klingt vielleicht auch so etwas wie ein leichter Zweifel an: »Kleine Mama, ich hab' so viel an Dich gedacht und daran, wie es damals war, als Du Dich mit Papa verlobt hast. Es ist eigentlich jetzt fast so wie damals, auch ich konnte Alexander zuerst nicht leiden. Je t'embrasse de tout mon cœur et je t'aime beaucoup – ich umarme Dich aus ganzem Herzen und habe Dich sehr lieb . Jetzt würde ich so gerne bei Dir sein, um mich mit Dir zu beratschlagen. Du kannst so schön und gut sein, und Du, lieber Papa, schüttele bitte Dein weißes Haupt nicht zu sehr wegen Deiner ungezogenen Ältesten.«
    So lautete also das Familienmärchen: Fritz gewann die Liebe der zweifelnden Emilie durch Hartnäckigkeit, obwohl sie ihn nicht einmal leiden konnte. Und falls Lottie nun ihrerseits Zweifel verspürt haben sollte, kam diese Legende ihr sicherlich sehr gelegen. So war das eben: Frauen zweifelten. Das gehörte dazu, so musste es sein. Und danach würde alles gut werden. Man sehe sich nur Mama und Papa an …
    Ich finde Gefallen an Vermächtnissen – Briefen, Wörtern, die im Augenblick des Geschehens festgehalten werden. Sie lassen Alexander Stenbock-Fermors glühende Liebesbezeugung – ein Wunder, ein Abgrund von Seligkeit, Du bist es –
zweifelsohne als den banalen Kitsch zu Tage treten, der er ist.

    Alexander Stenbock-Fermor 1927.
    Aber es war ganz bestimmt romantisch, er war ja schließlich etwas Besonderes! Er – der Graf, der Balte. Es besteht kein Zweifel daran, dass man sich in ihn verlieben konnte und dass sie das tut. Man sehe ihn sich nur an: Der Hut, diese ausdrucksvollen Augen, die gerade Nase, die vollen Lippen, die in einem »männlich« markant geschnittenen Gesicht sitzen. Warum sollte sie auch nicht seinem Werben nachgeben? Warum nicht völlig von ihm durchtränkt sein?
    Nicht zu vergessen diese Fülle an Geschichten, die er ihr erzählt: Sie ähneln schließlich jenen, die Emilie vom schönen Schloss Ratshof erzählte, auch wenn er das Kind ist, das von einer liebevollen russischen Njanja, seinem Kindermädchen, gehegt und gepflegt wird und es das Haus seiner Kindheit vor den Toren Rigas ist, das 1905 in Brand gesteckt wird. Er schildert, wie er in seinen Träumen immer wieder im Schloss umhergegangen sei, in dem sich ihm scheinbar endlose Zimmerfluchten nacheinander geöffnet haben, Zimmer, die mit Schätzen angefüllt gewesen seien – während Lottie ihm verzaubert und mit leicht geöffnetem Mund lauscht. Und er erzählt, dass Vater Stenbock das »Pagenkorps«, eine privilegierte Militärschule des Zaren in St. Petersburg, besucht habe, dass Mutter Stenbock, geborene Fürstin Kropotkin, als

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