Meine Mutter, die Gräfin
»[…] und es sei verächtlich, wenn ein Mädchen der Jugendbewegung vor den letzten Konsequenzen in einer Liebesbeziehung zurückschrecke« – ja, es sei ihre Pflicht, dafür zu sorgen, dass »unsere Jungen« ihren Trieb nicht dadurch besudelten, dass sie zu Prostituierten gingen …
Mit einer gewissen Schärfe gibt Grete eine Anekdote aus jener Zeit wieder. Ein junges Mädchen sei zu Hans Blüher, einem der »Väter« dieser Wandervogel-Jugendbewegung, gekommen, um ihm ihr Herz auszuschütten – denn die Bewe
gung stellte auch Ansprüche an eine seelische Aufrichtigkeit, die etwas Psychoanalytisches an sich hatte:
»Er hörte sie an, verließ dann das Zimmer, um kurz danach, in einen purpurroten Mantel gehüllt, wieder im Beratungszimmer zu erscheinen. Er trat vor das verblüffte Mädchen, öffnete den Mantel, unter dem er nackt war, und sagte mit Pathos: ›Das fehlt dir! Und nichts anderes …‹«
In Heidelberg, wo Grete und Rafael dem Sozialistischen Jugendverband beitreten, sind »unsere Genossen«, wie Grete sie nennt, wie Mitglieder einer einzigen großen Familie. Es sei völlig selbstverständlich gewesen, nicht verheiratet zu sein, frei zu sein, ja, sich von der Liebe zu befreien, die Frauen zu Objekten degradierte, um in ihrer Persönlichkeit nicht mehr eingeschränkt zu sein. Grete lernt diese neue Lehre durch eine »superemanzipierte« Studentin kennen, mit der sie ihr Zimmer teilt. Sie war eine Pfarrerstochter (wie sie unbedingt festhalten muss) mit Bubikopffrisur und trug ein dunkelblaues, an den Hüften gegürtetes Kleid, was ihr knabenhaftes Aussehen noch mehr unterstrich:
»Sie gehörte jener Kategorie von Superemanzipierten an, für die der Geschlechtsakt an Bedeutung so alltägliche Lebensäußerungen wie Essen und Trinken nicht übertreffen durfte. Sachlichkeit war das Zauberwort. Man schlief miteinander, weil man nun einmal normale Triebe hatte und weil es einem selbstverständlich mehr oder weniger Spaß bereitete, aber man versuchte, diese erfreuliche Funktion nicht durch gefühlsmäßige Belastungen zu trüben.«
Grete befindet sich im Zweispalt, selbst noch, als sie ihre Erinnerungen zu Papier bringt. Gewiss, sie seien »maskulin«, diese jungen Frauen (also: keine »richtigen« Frauen) – wenn
sie nur über ihre Vorstellungen geschwiegen hätten, aber alle sollten ja befreit werden! –, doch eigentlich seien das Krokodilstränen gewesen, weil diese Sachlichkeit in Wirklichkeit nur eine neue Art von Sentimentalität, in die sie sich geflüchtet hatten, gewesen sei. Aber dennoch – dennoch zeichnet sie ein beinahe neidvolles Porträt von Frieda Schieff, die wie angegossen auf alle stereotypen Beschreibungen der befreiten Frau der Goldenen Zwanziger passte. Sie sei wirklich befreit gewesen: So sei sie beispielsweise liegen geblieben, wenn man ihr Zimmer betrat – (wenn das mal reichte …) –, sie habe es für die natürlichste Sache von der Welt betrachtet, mit einem Mann, den sie gerade erst kennengelernt hatte, ins Bett zu gehen, wenn er ihr denn gefiel – und schön sei sie gewesen! Nach unzähligen Abenteuern in Spanien habe sie in Paris schließlich doch noch einen zwanzig Jahre jüngeren Mann geheiratet.
Grete und Rafael hingegen gingen nach Jena, wo sie sich bis 1926 aufhielten, als auch Lottie dorthin kam – womöglich sind sie ja sogar auf der Straße aneinander vorbeigelaufen? Grete war zu jenem Zeitpunkt schwanger und wurde mit den Normen konfrontiert, die natürlich noch fortlebten: Dass unverheiratete schwangere Frauen kein Zimmer mieten durften. Also heirateten sie schließlich doch. Grete hieß von jetzt an Margarete Buber. Sie bekam den Nachnamen des werdenden Vaters. Und eine kleine Tochter.
Jena 1926-1927
Lottie wiederum kehrte 1923 von Weimar nach Radautz zurück. Vielleicht kam sie ja gerade rechtzeitig zu ihrem siebzehnten Geburtstag am 20. September 1923 dort an. Und was war danach? Folgendermaßen klingt es in ihrem Bericht für die sowjetischen Behörden – kurze, sachliche Auskünfte, in deren Mittelpunkt die Arbeit steht: »Nach meiner Rückkehr arbeitete ich weiter bei meinem Vater und in der Buchhand
lung Zeidner in Kronstadt/Siebenbürgen [heute Brașov]. Im September 1926 trat ich meine Stelle als Stenotypistin im Verlag Eugen Diederichs in Jena an. Dort arbeitete ich in der Vertriebsabteilung. Ende 1927 wurde ich arbeitslos und kehrte nach Rădăuţi zurück.«
Der Verlag in Jena war ein eigentümlicher, magischer Ort und wurde von dem
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