Meine Mutter, die Gräfin
ein hell-dunkles Bühnenbild, alte Häuser, Giebeldächer – eine hohe Kulisse. Über uns blinkten Sterne.
Die Uhr im Rathaus schlug zwölf. Wir sahen das Wunderwerk des Schnapphahns arbeiten, das nächtlich-ernste Spiel von Figuren: Der schwarze Teufel schnappte gierig und umsonst nach dem Apfel, den ein frommer Pilger lockend hinhielt. Der Engel läutete mahnend mit einem hellen Totenglöcklein dazu.«
Eine »neue Frau«?
Aber es war nicht nur alles blau blühende Romantik, Berggipfel, Kreistänze, Gemeinschaftsabende und Volkskultur – es war auch Theater. Das Stichwort, das sie in ihre biografische Skizze von 1926-1927 aufgenommen hat: Theater . Vor allem bezog es sich anscheinend – und wieder ist Stenbock die Quelle – um den Einakter, den sie immer und immer wieder begleitet vom Jubel der anderen im kleinen »Familienkreis« vorspielten: Das Stück Juana von Georg Kaiser. Es zeichnete sich durch seine expressionistisch-hastige Sprache aus, bei der die Wörter wie Explosionen kamen, eine nach der anderen, rasche Entladungen. Für Stenbock war dieses
Stück ein Teil der »Sachlichkeit« der neuen Kultur. Womöglich ein Gegengift gegen die blaue Blume der Romantik? Wenngleich es eine wirklich derbe Geschichte war – wenn auch nicht romantisch, so doch melodramatisch: Juan (Stenbock) ist ein totgeglaubter Verschollener. Sein bester Freund Jorge hat unterdessen seine Stelle eingenommen, was bedeutet, dass er auch Juans Platz bei seiner großen Liebe und Ehefrau Juana (meine Mutter) eingenommen hat. Für Juana war das Bild der beiden zu einem verschmolzen, sie wird Jorges Frau »ohne Juan im Herzen die Treue zu brechen« (Neue Sachlichkeit, Stenbock?).
Doch da – da kehrt der Verschollene, der für tot erklärte, zurück und es kommt zur Katastrophe: Juana begreift jetzt, dass es sich um zwei verschiedene Personen handelt. Gegen ihren Willen ist sie eine Frau mit zwei Männern; aus den besten Freunden werden Todfeinde. Ein Becher Gift wird auf den Tisch gestellt – wer von den Männern zuerst daraus trinkt, soll sterben und den Weg für den anderen freimachen. Inzwischen erfährt Juana jedoch von dem Plan, stürzt zum Becher und trinkt selbst das Gift.
Und zwar, weil – wie sie unter Todeszuckungen noch undeutlich herausbringt – die Männerfreundschaft so etwas Seltenes sei, dass sie geschützt werden müsse. »Ich störte eure Freundschaft! Nur Frechheit von Dirnen tastet an euer Heiligtum!« Und sie sinkt erst sterbend zusammen, nachdem sie die Hände der beiden Männer übereinander geschlossen hat – die Freundschaft ist gerettet. Tableau. Applaus. Die reizende Juana hebt ihren Blick und lächelt. Und bekommt einen Drink und eine Zigarette.
Weshalb ich davon schreibe? Weil ich auf die unverhohlene Romantisierung von Männerfreundschaft reagiere? Auf diesen homosozialen Kult – das Thema der abendländischen Kultur? Und darauf, dass meine Mutter buchstäblich an diesem Kult teilnimmt, diese Worte immer und immer wieder
ausspricht? Wie sie von dieser perversen Unterordnung geformt wird: reizend, sterbend, eine Frau zwischen zwei Männern. Erotisch. Verführerisch. Machtvoll.
Aber sie geht arbeiten und will arbeiten gehen. Die Verlobung änderte nichts – in ihrem Brief an ihre Eltern schreibt sie, dass an eine Hochzeit noch nicht zu denken sei, weil sie beide nach dem 1. November arbeitslos sein werden. Obwohl – sein Buch werde natürlich im Frühjahr erscheinen, aber davon werden sie kaum leben können. Stattdessen hat sie sich Folgendes überlegt:
»Neulich dachte ich wieder einmal über mich und meine unmittelbare Zukunft nach, und da kam mir eine Idee, die ich Euch jetzt vorlegen möchte (freilich habe ich wenig Hoffnung, dass Ihr sie gutheißt, da ich weiß, wie es Euch geht, und ich finde es auch schrecklich, Euch schon wieder mit einer Bitte zu kommen!). Ich habe daran gedacht, Gymnastiklehrerin zu werden. Ich glaube wohl, dass ich das Zeug dazu habe, und weiß, dass man gerade in Rumänien mit diesem Beruf viel anfangen kann. Und nun wollte ich Euch bitten, mir eine gewisse Summe vorzustrecken, die ich dann in zwei bis drei Jahren abzahlen würde, um mich so lange über Wasser zu halten, bis ich eine Stelle gefunden habe und mit der Ausbildung beginnen kann. Falls Ihr es Euch aber nicht leisten könnt und nicht dafür seid, komme ich Anfang November zurück.«
Gymnastiklehrerin? Meine Mutter? Obwohl diese Aufnahmen von ihr im Badezug tatsächlich etwas haben. Und nachdem sie
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