Meine Mutter, die Gräfin
Manuskript an den Eugen Diederichs Verlag in Jena. Nein, der Verlag wollte das Buch nicht veröffentlichen – und das leuchtet schließlich auch ein, passte es doch nicht zu dessen nationalistischem, neuromantischem Gesülze –, will ihn aber seltsamerweise gerne einstellen, also fährt er Ende 1926 dorthin – und begegnet dort meiner Mutter.
Liebe?
Der Gastgeber stellte sie ihm als eine junge Rumänin vor. Sie sei, so Stenbock, schlank und mittelgroß gewesen und ihre schmalen, todernsten grauen Augen hätten unter kräftigen dunklen Augenbrauen in die Welt geguckt:
»Zwei junge Menschen schauten sich an und begriffen in dem Augenblick, dass ein Wunder geschehen war. Sie redeten hilflose Worte, hinter denen nur der eine Gedanke stand: Du bist es.
[…]
Alles geschah selbstverständlich, wie nach alten, unverrückbaren Gesetzen. Zwei Menschen lösten sich von der Welt, vom Alltag, von der Zeit, und fielen in einen Abgrund von Seligkeit …«
Als Alexander Stenbock-Fermor diese gefühlvollen Worte über seine erste Begegnung mit Charlotte/Lottie zu Papier bringt, schreiben wir das Jahr 1933; ein Jahr, in dem die Welt Kopf steht und die beiden schon kein Paar mehr sind. Mir liegt ein unveröffentlichtes Manuskript, Mensch allein …, von ihm vor, in dem er die Erlebnisse seines abwechslungsreichen Lebens kunterbunt mischt und Revue passieren lässt. Und ein Rest von Leidenschaft ist da zweifellos noch vorhanden – liegen die Geschehnisse aus Jena von 1927 doch noch nicht so weit zurück. In den Siebzigerjahren, als er seine Memoiren verfasst, beschreibt er dieselbe Begegnung bedeutend nüchterner: »Ich verliebte mich in eine junge, schlanke Deutschrumänin, die auch im Verlag arbeitete.«
So steht es da. Auf Seite 257. Leni zeigte uns verärgert die Seite, im Sommer 1983. Noch nicht einmal ihren Namen hatte er erwähnt! Aber noch aufgebrachter war sie darüber, dass er Mama als Deutschrumänin bezeichnet hatte …
Ihr, Lottie, wird in seinen Memoiren wahrlich nicht viel
Platz eingeräumt; sie ist nur eine unter vielen aus dem bunten Haufen Menschen, die er im Laufe seines langen Lebens kennengelernt hat.
Aber ein bisschen erfahren wir doch über das Leben in Jena im Jahr 1927 und über ihre auf Gegenseitigkeit beruhende Schwärmerei. Er habe die Kolonie von baltischen Auswanderern in der Studentenstadt kennengelernt und sei alten Bekannten aus Riga begegnet – das allein sei ein Grund zur Freude gewesen. Und alles sei so romantisch gewesen, wie er schreibt – mir kommt es so vor, als ob er seine Verliebtheit in die »Rumänin« im Nachhinein damit entschuldigen will, dass er sich selbst als eine Art Opfer, ein Opfer jener sonderbaren Diederichs'schen Atmosphäre und der Jenaer Kultur – der »Welle der Romantik«, die dort herrschte, wie er selbst schreibt – hinstellt.
Man machte Wanderungen auf Berge, Spaziergänge im Mondschein, hielt nächtliche, schwärmerische Debatten ab (ob er wohl an so einem Abend in ihre ernsten Augen schaut und ein Wunder geschieht?), wurde zu Hauskonzerten in die Salons eingeladen, und ja – auch er schwang das Tanzbein und nahm an literarischen Veranstaltungen in gutsituierten Familienkreisen der Stadt teil.
Und ich erfahre auch, was am Tag der Sonnenwende 1927 in Jena vor sich ging: Da beging Vater Diederichs nämlich seinen 60. Geburtstag, der ausgesprochen schwedisch war – als handle es sich um eine deutsche Huldigung an die schwedische Ellen Key –, mit den Verlagsangestellten, Autoren, Kameraden aus seiner Wandervogel-Gruppe usw., feierte die ganze Nacht lang. Aus Stenbocks Schilderung entsteht der Eindruck, als ob halb Jena mit dem Geburtstagskind vom Gasthaus »Zum Blauen Schield« loszog. Einem Geburtstagskind, das eine schwedische Bauerntracht – weißer Mantel, rote Weste und rote Kniestrümpfe – sowie einen Blumen
kranz auf dem Kopf trug (wie alle anderen auch) und die neue Hausfahne schwenkte; eine Fahne, die den von Feuerstrahlen umgebenen Verlagslöwen zeigte und deren Inschrift lautete: »Schier dreißig wandelt er auf Erden – jetzt will der Löwe kosmisch werden« – und der Löwe, ja der Löwe war der Verlag, der ebenfalls ein Jubiläum beging.
Eugen Diederichs feiert eine »schwedische« Mittsommerfeier.
Auf dem Berg wurde ein Johannisfeuer entzündet und Diederichs nahm auf einem Stuhl, vielmehr einer Art Thron, Platz und beschwor mit leiser, belegter Stimme die Geister der Urzeit, der Antike, des alten Germanien, las aus dem
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