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Meine Mutter, die Gräfin

Meine Mutter, die Gräfin

Titel: Meine Mutter, die Gräfin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yvonne Hirdman
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Hoffräulein gedient und manchmal ihr Hofkleid
getragen und eine ganze Woche lang geweint habe, als die Zarenfamilie hingerichtet worden sei. Ja, und dass der kleine Alexander völlig »verrusst« gewesen sei, weil er wegen seines russischen Kindermädchens kaum ein Wort Deutsch habe sprechen können – und seine Eltern deshalb sowohl eine reichsdeutsche Erzieherin – Fräulein Boelter – eingestellt hätten, wie auch eine französische Gouvernante – Mademoiselle Jaton, eine Schweizerin – da schau an . Später sei er dann auf ein Internat nach Deutschland geschickt worden, und Lotties Herz schmerzt vor Mitleid mit dem kleinen Jungen. Wie lange hast du weinend auf der von dir verriegelten Toilette gesessen?
    Und er erzählt und erzählt: Wie er den Sommer 1913 auf dem Gut seiner Tante, 100 Werst entfernt von Moskau, verbracht habe und dass er dort, ja dass er dort eine Schwadron Husaren vorbeireiten gesehen habe – braungebrannte Soldaten in weißen Sommerhemden, roten Hosen, mit hohen Stiefeln, gelb-blauen Mützen und funkelnden Lanzen – oder was für Waffen auch immer Husaren trugen.
    Und sie erzählt ihm ihrerseits von den Truppen in Radautz, von dem kindischen Stolz, den sie verspürte, als »die Unsrigen« in den Krieg zogen, von der gefährlichen Reise zu ihrem Vater, von den russischen Kosaken auf der Wiese, von ihrer Mutter und den Soldaten, die bei ihnen einquartiert waren, von den Verletzten, die nebenan versorgt wurden, und vom Wirrwarr bei Kriegsende, als die Straßenschilder immer wieder geändert wurden. Er wiederum schildert ihr die Revolution, schildert, dass er sich im Herbst 1918 als Freiwilliger der baltischen, sogenannten »Landeswehr« angeschlossen hätte, obwohl er erst sechzehn gewesen sei, eine Armee, die sich aus Deutsch-Balten und »weißen« Letten zusammengesetzt habe, und wie sie gegen »rote« Letten und Russen gekämpft hätten.

    »Wir jagten durch Kurland. Überall bellten Maschinengewehre, Häuser brannten, Gefangene wurden an der Landstraße niedergemetzelt. Ich sah die ruhigen bärtigen Gesichter von Bauern, die noch ein Kreuz schlugen vor dem Tode. Ich sah das verzerrte Gesicht eines erhängten ›Kommissars‹. Auf Straßen in den Städten – Leichen, die Schädel zertrümmert.«

    Sie lauscht – erschaudert, hält sich die Ohren zu. Er fährt fort und berichtet, dass sie sogar gegen ein Frauenbataillon gekämpft hätten und er im Mai 1919 als Soldat wieder in seine Heimatstadt Riga zurückgekehrt sei, wo Njanja mittlerweile vor Kummer und Angst um ihn verstorben sei und seine Familie aus diesem Lettland, in dem sie keinen Platz mehr gehabt hätten, nach Neustrelitz geflohen sei, und dass er im Januar 1920, als er achtzehn wurde, seinen Dienst als Weißgardist beendet habe und nach Deutschland, genauer gesagt nach Berlin, gefahren und zur Passage in unmittelbarer Nähe der Prachtstraße Unter den Linden gegangen sei.
    Und was erzählt sie ihm noch von ihrer Kindheit? Kann sie sich ihm anvertrauen? Was will sie ihm überhaupt erzählen? Sie hat seinem dramatischen jungen Leben ja nicht viel entgegenzusetzen. Aber das ist ja auch kein Wettbewerb! Er ist schließlich ein Mann und muss auf der großen Bühne des Lebens selbstverständlich besser sein als sie. Es ist, wie es sein soll. Sie sind Mann und Frau – und sie sind verlobt und das Leben vermutlich ganz wunderbar. Und bald, ja bald schon wird er ein richtiger Schriftsteller sein – es ist ja auch nicht weiter erstaunlich, dass sich die Tochter eines Buchhändlers in einen baltischen Grafen und Autor verliebt. Alles klingt irgendwie wie in einem Märchen – sofern man diese Aufzählung vergisst: Alexander – Prügel – Romantik . Und als sein Buch Meine Erlebnisse als Bergarbeiter vom Engelhornverlag in Stuttgart angenommen wird, herrscht Glück
auf allen Ebenen. Und sie, die »Deutschrumänin«, ist voll dabei. Sie sitzen am Rathausplatz, im Weinlokal Göhre in Jena (ich glaube, es ist dasselbe Fachwerkhaus, das heute das Stadtmuseum Göhre beherbergt), lassen sich Spargel und Schinken schmecken und trinken Walderdbeer-Bowle: Der Weißwein wird in einer Glasterrine mit Erdbeeren serviert, die mit einer ganzen Flasche Sekt aufgegossen wurde. Stenbock bringt vor lauter Glück kaum ein Wort über die Lippen. Schweigend, verliebt und leicht beschwipst sitzen sie in der Abenddämmerung:

    »Die Kellnerinnen stellten Windlichter auf die Tische, Nachtfalter taumelten gegen das Glas. Der Marktplatz wirkte jetzt wie

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