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Meine Mutter, die Gräfin

Meine Mutter, die Gräfin

Titel: Meine Mutter, die Gräfin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yvonne Hirdman
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Weimarer Republik eine radikale Sexualreformbewegung, die sich das Recht auf Straffreiheit bei einem Abbruch und das Recht auf den eigenen Körper, sexuelle Aufklärung, eine Entkriminalisierung von Homosexualität usw. auf die Fahnen geschrieben hatte. Grete erzählt beispielsweise, wie ihre Schwester, die schöne Babette, und ihr Mann, der Kommunist und Propagandist Willi Münzenberg, in einer Wohnung lebten, die hinter Magnus Hirschfelds Sexualwissenschaftlichem Institut eingepfercht war.
    Dort lernte Grete auch ihren Heinz Neumann kennen, als sie sich eine Ausstellung über andere sexuelle Orientierungen ansah, für die man, wenn man Kommunistin war, größtes Verständnis und Sympathie hegte. »Pervers ist oft schon: was anderen missfällt …« Wir kämpfen für einen neuen Men
schen, für eine neue Moral – niemand besitzt den anderen, solange es niemandem Schaden zufügt, ist alles erlaubt. Der Orgasmus ist eine Erlösung. Wilhelm Reich baute seinen »Kasten«, in dem die Orgon-Energie fließen sollte, und das Abtreibungsverbot war ein Klassenparagraf, der bekämpft werden musste.
    Darin waren sich interessanterweise die Sozialdemokraten und die Kommunisten einig. Im Kampf gegen den Paragrafen 218 wurde geradezu eine kleine Einheitsfront gebildet, ein Ereignis, das den Geschichtsbüchern eigentlich eine Notiz wert gewesen sein sollte, weil das das letzte Mal war, dass die beiden Parteien vor der Machtergreifung der Nazis eine gemeinsame Aktion durchführten. Aber nein. Ich stoße in der Anthologie When Biology Became Destiny. Women in Weimar and Nazi Germany (von 1984), die heute schon fast ein Klassiker ist, auf diese Geschichte. Geschichte, über die buchstäblich Gras gewachsen ist! Grete schreibt nichts über diese Demonstrationen vom 15. April 1931, und Stenbock auch nicht. Aber so ist es gewesen:
    In Stuttgart werden am 19. Februar 1931 die Ärzte Else Kienle und Friedrich Wolf, der KPD -Mitglied und Autor des Dramas Cyankali war, verhaftet (Schlussszene: »Ein Gesetz, das in jedem Jahr achthunderttausend Mütter zu Verbrechern macht, das Gesetz ist kein Gesetz mehr!!« – Applaus) . Beide wurden der gewerbsmäßigen illegalen Abtreibung an über 100 Frauen beschuldigt.
    Diese Verhaftungen sind es, die letztendlich zu einer regelrechten Einheitsfront zwischen der Deutschen Liga für Menschenrechte, dem Verein sozialistischer Ärzte, Wissenschaftlern, den Intellektuellen, Rechtsanwälten und auch Journalisten führen. Prominente Fürsprecher wie Ernst Toller, Albert Einstein, Kurt Tucholsky, Bertolt Brecht und Heinrich Mann waren mit von der Partie – hingegen kennt die Frauen, die sich dafür einsetzten, heute fast niemand mehr:
Helene Stöcker, die Königin des liberalen Feminismus, Thea von Harbou, die im Film Metropolis mitgespielt hat, Drehbücher verfasst hat und später Nationalsozialistin geworden ist, und schließlich die vielleicht größte treibende Kraft, Helene Overlach, die Mitglied der Kommunistischen Partei war.
    Am Internationalen Frauentag am 8. März 1931 wurden in Deutschland landauf, landab über 1500 Versammlungen und Demonstrationen zum Thema »Nieder mit den Abtreibungs-Paragrafen!« abgehalten. In Berlin demonstrierten ca. 3000 Frauen und skandierten: »Nieder mit der Diktatur Brüning!« »Nieder mit Paragraf 218!« »Brot und Frieden!« Der Höhepunkt wurde am 15. April erreicht, an dem man das Berliner Deutsche Stadion gemietet hatte und wo sich über 15 000 Menschen versammelten, um gegen den »Klassenparagraf« zu demonstrieren – aber das war nicht genug. Im Juni desselben Jahres schien alles im Sande verlaufen zu sein, denn der Paragraf existierte immer noch. Der Kampf gegen den Paragrafen 218 sollte erst in den 1970er Jahren wieder aufgenommen werden.
    Ich weiß natürlich nicht, ob sie – Charlotte und Alexander – sich dem Demonstrationszug angeschlossen haben, weiß nur, dass sie vollauf mit anderem beschäftigt waren. Stenbock schrieb eifrig und war mit der Gründung des Scheringer-Komitees beschäftigt, und Charlotte eilte zwischen Büro und Krankenhaus hin und her und war bemüht, sich um Emilie und ihren zunehmend kränkeren Bruder Otto zu kümmern (das kommt später). Was die Sache betraf, so sympathisierten sie jedoch damit, nicht nur als allgemeine Linkssympathisanten, sondern als zunehmend überzeugtere Kommunisten. 1930 war das Jahr der Entscheidung.
    Deutschland von unten
    Er hatte sie, seine junge Ehefrau, also im heißen Berlin zurückgelassen, die

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