Meine Mutter, die Gräfin
von dem kleinen Lohn leben musste, den sie verdiente, und war einfach auf die Reise gegangen, auf der er die Situation der Armen und Arbeitslosen im krisengeschüttelten Deutschland dokumentieren wollte – verantwortungslos und ungebunden, habe ich mir gedacht –, bis ich zu lesen anfing: Deutschland von unten, Reise durch die proletarische Provinz 1930 . Und plötzlich bekommen sie beide, Alexander und Charlotte, mehr Gewicht, mehr Facetten, mehr Tiefe. Sie sind gar nicht die marionettenartigen Figuren, als die Thiess sie schildert, wählen nicht einfach die Kommunisten, um mit der Mode zu gehen – sondern reagieren damit auf einen Zustand, den Alexander in seinem Buch beschreibt. Auf Deutschland. Von unten. Mensch , denke ich so bei mir, das ist etwas, das wir nie vergessen dürfen, diese unglaubliche Armut, unter der die Menschen in Europa, in Deutschland, Schweden, in den vielen entlegenen düsteren Gebieten, den letzten Winkeln Europas litten – wir dürfen nicht vergessen, unter welchen Bedingungen diese Menschen lebten, die den tatsächlichen Nährboden für die Verbreitung des Kommunismus schufen. Wer, bitte, sollte damals nicht gedacht haben, dass eine kommunistische Umgestaltung der Gesellschaft die einzige Hoffnung darstellte? Demokratie? So wie in der Weimarer Republik? So eine, wie sie die politisch suspekten und schwachen Regierungen vergeblich zu führen versuchten? Sollte das etwa das Gegenmittel sein?
Und da, da sitzt Stenbock, der zunehmend rötere Graf; sitzt in seinem gegen Wind und Kälte geschützten Hotel und verzehrt sein leckeres Abendessen: »Das Hotel ist eine Oase in dieser Welt. Ein Märchen.«
Den ganzen Tag hat er in Waldenburg (Sachsen) unter den Arbeitern der Gruben, der Textilindustrie und der Porzellanfabriken zugebracht und Material für sein Buch gesam
melt; hat die Arbeitslosigkeit und die kümmerlichen Löhne dokumentiert, hat einen Blick in die erbärmlichen Unterkünfte geworfen, hat die Armut gesehen, gerochen, fotografiert und beschrieben:
»Oben im vierten Stock eines Hauses kommen wir in ein winziges Zimmer, vollgebaut mit Schränken, Kommoden, Tischen. In drückender Enge wohnen hier fünf Personen. Zum Schlafen gibt es zwei Betten. Das Fenster wird durch die nahe Außenwand der dicht gegenüberliegenden Mietskaserne verdunkelt. Auch hier muß ständig das Licht brennen. Miete 11,75 Mark.
Ein großes Bild wird von der matten elektrischen Birne beschienen: Auf einem gepflegten grünen Rasen spielt eine junge rosige gepflegte Mutter mit einem gepflegten rosigen Kinde. Die Kinder, die dieses Bild besehen, haben Skrofulose und Tuberkulose, ihre mageren unterernährten Körper stehen in Lumpen. Die Mutter steht an den Schrank gelehnt, ein ausgemergeltes Gesicht mit breiten Backenknochen, die schweren Hände ruhen auf dem schwangeren Bauch.
Das Bild an der Wand erschreckt und erregt mich. Ich möchte es herunterreißen. Aber ich begreife: solche Bilder, die eine verlogene Welt vorgaukeln, sind für die Arbeiter ebenso bitter notwendig wie das tägliche Brot.«
Er sitzt also da und versucht zu essen. Die Zeitung, in die er einen Blick wirft, setzt dem ganzen Elend, das er in den letzten Tagen hat mit ansehen müssen – Unterernährung, Hunger, Prostitution, Inzest, Kindsmisshandlungen, Elend, Elend –, noch eins drauf: Er liest von einem Mann, der am Dienstag vor Schwäche zusammengebrochen war. Passanten waren stehengeblieben und hatten ihm geholfen, sich auf eine Bank zu setzen, wo sie ihm den obersten Kragenknopf
öffneten, sein Gesicht mit Wasser abtupften – der Mann konnte nur ein Wort herausbringen: Hunger. Hunger.
»Einen Augenblick lasse ich die Zeitung sinken. Vor mir steht eine Schüssel mit Aufschnitt. Ich sehe die Herren am Nebentisch. Der Betriebsführer führt eine kleine Tasse mit Kaffee zum Mund. Er hält den kleinen dicken Finger ausgestreckt. Ein dicker goldener Reifen ist daran. Der Betriebsführer lächelt. Im Mund blinkt ein goldener Zahn. Der Kellner, höflich geknickt, gießt den Wein in die Gläser. Ich schließe die Augen und versuche es mir vorzustellen: Ein Mann bricht auf der Straße vor Hunger zusammen.«
Monatelang bereist er die »Proletarische Provinz« Deutschlands und dokumentiert mit seiner Feder und seiner kleinen gekauften Kamera (30 Mark) das Leid der Menschen und die Entbehrungen, die sie hinnehmen müssen. In Hamborn stattet er seinen alten Arbeitskameraden einen Besuch ab, und als er vor ihnen Rechenschaft
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