Meine Mutter, die Gräfin
Partnern zur Zusammenarbeit Ausschau zu halten – war bis 1928 die dominierende Strategie und Taktik. Danach, in der sagenhaft langen Zeit, in der der 6. Weltkongress (wie üblich in Moskau) zusammentrat – vom 17. Juli bis zum 1. September –, fand, was Strategie und Taktik betraf, ein Kurswechsel statt – mit dramatischen Konsequenzen.
In völliger Übereinstimmung mit der kommunistischen »Double-Talk«-Sprache (Orwell nannte sie in seinem Roman 1984 »Neusprech«) wurde der Kurswechsel auf einen sogenannten ultralinken Kurs Einheitsfronttaktik genannt. Um gleichsam Kontinuität zu demonstrieren. Jetzt aber – und es sollte eine Zeit lang dauern, bis das in den Köpfen der kommunistischen Mitglieder verankert war –, ja, jetzt sollte die Einheitsfront sozusagen von unten agieren. Hä? , mag
sich womöglich ein Persson in Schweden oder ein Schröder in Berlin gefragt haben. Wie, »von unten«? Ja doch, die führenden Politiker und Funktionäre der Sozialdemokraten sollten bekämpft, ja, als Sozialfaschisten entlarvt werden – die sogar noch schlimmer als Faschisten und Nazis waren –, die in die Irre geführten sozialdemokratischen Genossen, Brüder, Arbeitskameraden hingegen, ja, mit ihnen wollte man zusammenarbeiten.
Und hier wittert Berlins kommunistische Führung im Frühjahr 1929 also ihre Chance, als Premierminister Hermann Müller, Preußens Innenminister Albert Grzesinski und vor allem der Polizeipräsident Zörgiebel in Person für den 1. Mai ihr Demonstrationsverbot verkündeten. Sie verliehen dem Begriff »Sozialfaschismus« tatsächlich ein Gesicht, das sogar die sozialdemokratische Arbeiterschaft erkennen sollte. »Trotzt dem Verbot! Auf die Straßen!«, propagierten demnach die Kommunisten. Am Morgen des 1. Mai füllten sich allmählich auch die Straßen in den Arbeitervierteln. Kurz nach 10 Uhr morgens wurden die ersten Schüsse auf der Kösliner Straße im Wedding, dem Arbeiterstadtteil schlechthin, abgefeuert, dann breitete sich der Kampf aus – Barrikaden wurden errichtet, wofür man sich das Material von der U-Bahn-Baustelle im Nostitzstraßenkiez beschaffte. Rufe erschallten: »Wir fürchten Zörgiebel seine Garde nicht! Wir gehen drauf und dran! Rot Front! […] Wir lassen niemals uns verbieten, trotz Zörgiebel und seinem Verbot! […] Berlin bleibt rot!«
Drei Tage dauerten die Kämpfe an. 33 Menschen starben, darunter einige, nur weil sie Zuschauer waren – wie 1931 bei den Schüssen vom Arbeiterstreik in Ådalen (Schweden). Insgesamt wurden bei den Kämpfen in Berlin über tausend verletzt und festgenommen. Ja, damals, im Mai 1929, da ist wahrhaftig Blut geflossen. Und als alles vorbei war, als die Barrikaden niedergerissen und die Pflastersteine wegtransportiert
waren, rief die KPD zum Generalstreik auf – der zum Fiasko wurde.
Lottie nimmt nicht daran teil. Nein, jetzt, im Frühjahr 1929, in ihrem ersten Frühjahr in Berlin noch nicht. Aber sie hört die abgefeuerten Schüsse, sie liest davon in den Zeitungen, sie ist empört und es zieht sie – wie Stenbock auch – immer mehr nach links. Sie sind Beobachter, gehen aber noch nicht auf die Straße. Denn sie hat ganz andere Sorgen.
Die Leibesfrucht spricht
Ich hole den Zettel raus, auf dem sie Anstalten gemacht hat, mit hastig aufgeschriebenen Wörtern in einer kleinen, spitzen Handschrift Ordnung in ihr Leben zu bringen. Was steht da noch gleich?
1928-1930 VI Arbeit und Umerziehung beginnt
Berlin – Lorentz – 1. Abtreibung – Thiess – Heirat – Winterfeldts – Hauser – Balten – Neustrelitz.
Arbeit und Umerziehung beginnt. Berlin und Lorentz. Und dann kommt das: Abtreibung – das klingt wie Abtritt, heißt aber Schwangerschaftsabbruch. So knapp steht das da, vor Heirat . Und ich denke bei mir: Sie kommt also im Herbst 1928 nach Berlin und lässt ein paar Monate später eine Abtreibung durchführen. Sie sind verlobt, wohnen aber womöglich nicht zusammen. Und jetzt ist sie schwanger. Sie sieht ihn an: Alex, sagt sie. Da ist etwas, was ich dir sagen muss; ich bin mir jetzt sicher.
Was soll er ihrer Meinung nach tun? Soll er in Jubelschreie ausbrechen, sie in die Arme nehmen, mit ihr durch die Wohnung tanzen und mit ihr ausgehen und feiern: Das verlangt nach Sekt! Und sie wird – glückselig – protestieren und einwenden, aber wir sind doch noch gar nicht verheiratet, was
werden denn bloß deine Eltern dazu sagen? Und er wird sie küssen und sagen, dass ihn das überhaupt nicht schere, sie könnten ja
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