Meine Mutter, die Gräfin
Prozent), schal geschmeckt haben.
Also – was hatte Stenbock dazu zu sagen? Oder vielmehr: Was hatten die Kommunisten in ihren Wahlanalysen nach den Wahlen im September 1930 dazu zu sagen? Kam man auf die Idee, dass der Erfolg der Nazis etwas mit der »Einheitsfront von unten« zu tun haben könnte?
Mitnichten. Stattdessen wurde das neue Phänomen »Faschismus« als die neue Verkleidung des Kapitalismus bezeichnet. In Deutschland hieß der Faschismus Nationalsozialismus. »Ein schönes Wort, nicht wahr, Kollegen? Nationaler Sozialismus!« Und wen sprach dieses Wort an?
»Ich will euch das«, so Stenbock, »durch ein Beispiel noch deutlicher machen. Wenn ein reicher Mann über Nacht arm wird, ist er am nächsten Morgen noch kein Proletarier, sondern ein reicher Mann, der sein Geld verloren hat. Er wird noch lange Zeit den feinen Herrn spielen wollen, auch wenn er nichts mehr besitzt. Sein Sohn dagegen, der proletarisch aufwächst, wird auch proletarisch empfinden. Mit diesem verarmten reichen Mann ist der proletarisierte deutsche Mittelstand zu vergleichen. Der entwurzelte Kleinbürger ist kein Bürger mehr und noch kein Arbeiter. Er glaubt nicht mehr an die alten bürgerlichen Parteien, er merkt zu deutlich, dass die Ideologien dieser Parteien mit der Wirklichkeit nicht mehr übereinstimmen. Er hasst den Kapitalismus. Aber zum Proletariat kann er auch noch nicht stoßen, es hemmen die alten reaktionären und bürgerlichen Vorstellungen.
Da kommt nun gerade zur rechten Zeit der Nationalsozialismus und packt die Kleinbürger an ihren tiefsten Instinkten. Für jeden Wunsch wird gesorgt. Antikapitalismus? Bitte schön, so viel du willst! Der Bürger merkt nicht, dass dieser Antikapitalismus nur eine unverbindliche Scheinradikalität
ist, die durch Verschiebung der sozialen Frage zur Rassenfrage oder durch die Einteilung des Kapitals in ›raffendes‹ und ›schaffendes‹ Kapital und andere kindische Mätzchen jede Spitze verliert. Aber der Bürger, der nicht gerne zu Ende denkt, der sich schnell an klingenden Schlagworten berauschen möchte, statt sich ernsthaft mit schwierigen, langweiligen Wirtschaftsfragen zu befassen, ist mit dieser bequemen Lösung höchst zufrieden und glaubt nun unter einer ›antikapitalistischen‹ Flagge zu segeln.
Auf der anderen Seite erhält er alles wieder, woran sein Herz bisher gehangen hat, den ganzen alten wilhelminischen Klimbim: Uniformen, Fahnen, Paraden, Hackenzusammenschlagen, Vorgesetzte, Vereinsabzeichen, heroische Kriegervereinsreden usw.«
Und Stenbock – der ganze Saal schweigt, die Männer betrachten ihn mit hingerissenen Augen – schließt seine Ausführungen mit den übersteigert prophetischen Worten über das Himmelsreich auf Erden: Sie, ja sie, die wahren Proletarier, werden bald ein großes Erbe antreten. Keiner, richtet er sich an die Genossen, keiner könne deshalb »seinen eigenen Garten pflegen«. »Ich stehe«, sagt er in seinem Buch Der rote Graf , »ich stehe auf der Erde, mitten im Klassenkampf. Ich muß meine Arbeitskraft verkaufen, wie jeder von euch […]. Ich gehöre in die proletarische Klassenfront […]. Ich stehe in eurer Front, in den Reihen der Arbeiter, die für eine neue, gerechte und menschliche Weltordnung kämpfen.«
»Der Saal leert sich. Wir gehen durch die nächtlichen Straßen. Heinrich, Wilhelm, Jakob, einige alte Kollegen. Ein dünner Regen kommt herunter. Die Tropfen zerplatzen an den matten Scheiben der Straßenlaternen. Die Straßen sind leer. Wir schweigen. Ich gehe in der Mitte zwischen meinen Kameraden …«
Ah!, möchte ich mit Emilie gemeinsam ausstoßen. Wie dick aufgetragen, wie elegant formuliert – wie nichtssagend! Aber die hier am Ende geäußerte kommunistische Propaganda muss natürlich nicht heißen, dass er sich die ganzen anderen Geschichten im Buch nur ausgedacht hat – die Lage, die in Deutschland herrschte, war verzweifelt: Wohnungsnot, Arbeitslosigkeit, Entbehrungen und Hunger musste er sich nicht zurechtreimen. In seinen Geschichten ist er zutiefst glaubwürdig.
Und er schreibt ihr, seiner jungen, in Berlin gebliebenen Ehefrau doch bestimmt, was er erlebt? Das tut er doch sicher? So eine Art ersten Entwurf seiner Erlebnisse? Und wie sollte sie sich angesichts dessen darüber beschweren, dass er sie allein gelassen hatte, wenn sie durch ihn von so viel Leid erfährt? Sie, die ein Bett zum Schlafen hat, eine Arbeit, zu der sie gehen kann, Kleidung, Essen – na ja, etwas zumindest –, Vergnügungen,
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