Meine Mutter, die Gräfin
ablegen soll und erzählt, was nach so vielen Jahren aus ihm geworden ist, komme ich wieder auf den Boden der Tatsachen zurück und werde etwas quellenkritischer. Denn das, was mir hier präsentiert wird – einschließlich der Bergarbeiter in Hamborn – ist eine regelrechte Lektion in deutschem Kommunismus anno 1930 – wohlgemerkt im Herbst 1930. So analysierten die Kommunisten die Lage, die ihr Sympathisant, der Graf Stenbock, so leidenschaftlich schildert:
»Heute sehe ich klarer und spüre die großen geschichtlichen Zusammenhänge. Wie etwa zur Zeit der Französischen Revolution die aufsteigende bürgerliche Demokratie vor dem sterbenden Feudalismus stand, steht heute das aufsteigende Proletariat vor der sterbenden bürgerlichen
Demokratie. Das Proletariat ist heute Träger der neuen geschichtlichen Idee. Das Bürgertum sucht krampfhaft seine letzte Position zu halten. Verzweifelt wird das kapitalistische System geschützt.«
»Wir werden bald alle wissen, wohin der Kapitalismus uns treibt. Vielleicht ist die Krise, in der wir jetzt stehen, noch nicht die letzte Krise. Noch kann es eine Atempause geben. Aber weitere schlimmere Krisen werden folgen und der Untergang im kapitalistischen System ist unausbleiblich. Um im Konkurrenzkampf zu gewinnen und höheren Profit herauszuholen, sind die Kapitalisten gezwungen, die Rationalisierung zu verschärfen und die Produktionsfähigkeit ihrer Betriebe bis zur äußersten Grenze zu steigern. Aber das müssen alle tun, alle Kapitalisten, damit niemand zurückbleibt. Eine planlose rasende Entwicklung der Produktion setzt ein. Der Markt wird überschwemmt. Doch wer soll die Waren kaufen? Die breiten Käufermassen sind ja die Arbeiter und Angestellten selbst, denen der Lohn gesenkt wird! So äußert sich die Überproduktionskrise in immer schärferen und zerstörenden Formen. Und nämlich in dem Widerspruch zwischen dem gesellschaftlichen Charakter der Produktion und der kapitalistischen Form der Aneignung ihrer Produkte.
Krisenerscheinungen überall! Kurssturz an der New Yorker Börse, Zahlungseinstellungen in den Vereinigten Staaten. Senkung der Löhne. Anwachsende Arbeitslosigkeit. In Amerika – nach letzten Schätzungen – 8 Millionen Arbeitslose, in Deutschland fast 5 Millionen, in England über 2 Millionen. Steigende Arbeitslosigkeit in Italien, Polen, Österreich, der Tschecheslowakei, Rumänien, Japan usw. Um die hohen Preise in der Landwirtschaft zu erhalten, wurden in Brasilien 2 Millionen Sack Kaffee ins Meer versenkt. In Amerika beginnt man statt Kohle Mais
zu verfeuern. Hier in Deutschland hat man Hunderttausende von Zentnern Roggen als Schweinefutter verwandt. In China sind 2 Millionen Menschen verhungert. Auswirkungen eines wahnsinnigen menschenfeindlichen Systems!
Genossen, und warum hält sich dieses System? Weil es getarnt auftritt und niemals seinen wahren Klassencharakter zeigt. Der Unternehmer arbeitet natürlich nicht für seinen Profit, bewahre, sondern für ›das deutsche Volk‹ oder ›das Christentum‹ oder ›die europäische Zivilisation‹. Darum gibt es noch heute breite Schichten, die den Kapitalismus ahnungslos verteidigen.
Nach dem Zusammenbruch der Monarchie stellte sich der Kapitalismus schnell auf die Demokratie um. Solange das Volk an die Demokratie glaubte, ging die Sache ganz gut. Aber allmählich wurden selbst dem Blindesten die kapitalistischen Hintergründe klar. Die ›Volksherrschaft‹ stellte sich leider bald als Herrschaft der Banken- und Industrieherren heraus.«
Ja genau, denke ich – das wurde aus der Demokratie, die zu jener Zeit beileibe keine Heilige Kuh war, sondern gewissermaßen beschmutzt – vom »Kapital« und den regierenden Sozialdemokraten, die für die große Wirtschaftskrise und das ganze andere Elend verantwortlich gemacht wurden.
Was aber war mit den Nationalsozialisten? Was hatte Stenbock über sie zu sagen? Es war ja nicht mehr möglich, sich einfach nicht darum zu scheren. Als Stenbock so zu seinen alten Kumpels in Hamborn spricht, war es nach der Wahl vom 14. September 1930, bei der die Nationalsozialisten in der Weimarer Republik mit ihrem unerwarteten Sieg die Republik erbeben ließen. 18,3 Prozent der Stimmen ging an sie, während der kleine Wahlerfolg der Kommunisten (von 10,6 auf gut 13 Prozent) dahinschmolz. Für jeden, der auch nur
einen Funken Verstand im Kopf hatte, muss der süße Sieg über die Sozialdemokraten, den Feind Nummer 1 also (sie fielen von fast 30 auf 24,4
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