Meine Mutter, die Gräfin
Bildung, Freunde. Nein, ich glaube, dass sie stolz auf ihn ist und seine Briefe mit zunehmender Niedergeschlagenheit liest. So ist das also, so müssen Menschen leben! So also kümmert man sich in diesem Land um die Kinder! So ist das also – was kann man nur dagegen tun?
Rote Hilfe
Sie tritt der »Roten Hilfe« bei, einer Organisation, die 1933 über eine halbe Million Mitglieder hatte und sich zu einem Viertel aus parteitreuen Kommunisten, einer geringfügigeren Anzahl Sozialdemokraten und einem Großteil Parteiloser zusammensetzte – wie Lottie. In ihrer Kurzbiografie für die sowjetischen Behörden schreibt sie:
»1931 wurde ich Mitglied der R . H . Als ich damals in die Partei eintreten wollte, hielt mich Stenbock zurück, wir könnten besser außerhalb der Partei für sie arbeiten. Leider ließ ich mich überzeugen.«
Aber sie hatte im September 1930 die Kommunisten gewählt, und die Rote Hilfe war 1931 trotz ihrer parteiunabhängigen Fassade eine durch und durch kommunistische Organisation – bis 1929 hatte sie noch auf einem freiheitlicheren sozialistischen Fundament gestanden, man hatte sogar Kritik an der kommunistischen Führung äußern können, aber nach 1929 wurde die Organisation völlig in die KPD und in die russische, internationale Rote Hilfe MOPR eingegliedert.
Die Rote Hilfe, in deren Reihen sich zahlreiche Rechtsanwälte und Juristen fanden, wollte politischen Gefangenen und ihren Angehörigen helfen. 1928 veranstaltete sie eine Kampagne zur Amnestie politischer Gefangener und stand 1929 den infolge des Blutmais Inhaftierten zur Seite. Sie finanzierte ein paar Kinderheime, bekämpfte den Paragrafen 218 – ach so, denke ich –, und sie veranstaltete Kampagnen für die Freiheit der Kunst.
Dort wird sie, Charlotte, also Mitglied. Was das genau hieß, war schwer zu sagen: An Veranstaltungen teilzunehmen, Geld zu sammeln? Sie hatte also – wie sie später erwähnt – den entscheidenden Schritt tun und in die Partei eintreten wollen, sich aber überreden lassen, dass es besser sei, von außen für die Partei zu arbeiten. Wie Stenbock es tat – wahrscheinlich, weil die KPD der Ansicht war, dass das so besser sei. Die Partei brauchte für die große Propagandakampagne des Jahres 1931 einen »ungebundenen« Mann: Um den Nazi-Leutnant Scheringer für die Sache der Proletarier zu gewinnen.
Der Fall Scheringer
Scheringer, Richard, geboren 1904, war einer dieser Burschen, die der Krieg irreparabel mit einem gewaltverherrlichenden Männlichkeitswahn korrumpiert hatte. Als er endlich alt genug war, um sich ins Kriegsgetümmel zu stürzen, war dieses schon wieder vorbei, so ging er stattdessen zum nazisti
schen Freikorps und beteiligte sich 1923 an dem Versuch, die Gutenberg-Druckerei zu zerstören. Und danach am sogenannten Küstriner Aufstand, wobei es sich um einen rechtsnationalistischen Versuch handelte, die Weimarer Republik zu stürzen.
Anschließend wurde er (trotz dieser »Verdienste«) als regulärer Offizier der deutschen Reichswehr 1928 zum Leutnant befördert. Als Leutnant der Reichswehr versuchte er sich schließlich gemeinsam mit seinen Kameraden Hans Friedrich Wendt und Hans Ludin an die Spitze einer nationalen Volkserhebung zu stellen, was aber entdeckt wurde. Sie wurden festgenommen und die Angelegenheit im Rahmen des Ulmer Reichswehrprozesses im Herbst 1930 untersucht; ein Prozess, der Berühmtheit erlangte, weil Hitler dort als Zeuge auftrat und seinen historischen Legalitätseid gegenüber der Weimarer Republik schwor: Er würde nicht danach streben, mit Gewalt nach der Macht zu greifen – ein Versprechen, das er zweifelsohne hielt. (Man erinnere sich: Die Nazis hatten in den Reichstagswahlen vom 14. September einen Erdrutschsieg errungen! Ich merke, wie schwer es mir fällt, das zu verdauen: dass der Zuwachs so enorm war.)
So kam es also, dass der Leutnant wegen Hochverrats zu 18 Monaten Festungshaft in Gollnow (Pommern) verurteilt wurde. Und jetzt, ja jetzt, als er da in der Festung sitzt, durchläuft er eine ideologische Metamorphose und wird für die Weltrevolution, den Kommunismus, die Sache des Proletariats gewonnen. Am 18. März 1931 konnte die KPD stolz verkünden, dass er die Seiten gewechselt hatte:
»Es gibt keinen Zweifel mehr: Die Freiheit steht allein bei den revolutionären Arbeitern, Bauern und Soldaten. […] Ich sage mich daher endgültig von Hitler und dem Faschismus los und reihe mich als Soldat ein in die Front des wehrhaften
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