Meine Mutter, die Gräfin
Proletariats.«
Wahrlich eine dramatische Metamorphose. Und an diesem berühmten Seitenwechsel sind zwei von Charlottes Männern beteiligt: Alexander Stenbock und der, den sie am meisten liebte – Heinrich Kurella.
Zeitgenossen von damals (und heutige Historiker) zögerten nicht, den Fall Scheringer als Beweis dafür anzuführen, dass die äußerste Rechte und die äußerste Linke zwei Seiten derselben Medaille waren, die mit Gewalt ihre Ziele durchsetzten wollten. Es sei nur, wie Lottie schon im Frühjahr 1930 nach Hause geschrieben hatte, interessant, dass die äußere Rechte und die Kommunisten fast dasselbe Programm hätten. Ein Jahr später würde sie sicherlich nicht gewagt haben, das so zu sehen – dann wäre sie der Meinung gewesen, dass es ein taktischer Zug der KPD , ein Geniestreich gewesen sei, der die irregeleiteten Hammel zum Seitenwechsel bewegte. Und wer könnte sich für diese Propaganda, die auf die Irregeleiteten abzielte, besser eignen als ein ehemaliger Weißgardist, ein Adeliger, einer, der übergelaufen war und erkannt hatte, dass er dasselbe Ziel wie die deutschen Proletarier verfolgte und ihr Schicksal teilte – Graf Alexander Stenbock-Fermor? Und deshalb werden wir jetzt noch nicht in die Partei eintreten, Loll, außerhalb der Partei sind wir von größerem Nutzen für sie . Und damit war die Sache entschieden.
Stenbock wurde demnach gemeinsam mit anderen Linken, wie dem Schriftsteller und Intellektuellen Ernst Toller, dem ehemaligen Nazi Otto Strasser, Frank Thiess, Lion Feuchtwanger und zahlreichen anderen als ein »freier« Intellektueller in den Fall Scheringer, wie er später genannt werden sollte, hineingezogen. Mit der KPD als Dirigent wurden sogenannte Scheringer-Komitees gegründet, deren ausdrückliche Aufgabe es war, die Amnestierung der politischen Gefangenen und der Verfolgten zu erwirken – na ja –, in denen
es selbstverständlich nur darum ging, immer mehr Nazis dazu zu bewegen, Scheringers Weg einzuschlagen.
Abgesehen von diesen »Zirkeln« (auch Aufbruch-Arbeitskreise, AAK genannt) wurde eine Monatszeitschrift gegründet, deren Name zugleich Parole war: Aufbruch ! Ein Aufbruch von der nationalsozialistischen Ideologie bzw. Organisation, die die Nazis ins Lager der Kommunisten trieb.
Die kommunistische Propaganda, die eine nationalistische Pirouette vollführte, stahl den Nazis eine Reihe von Herzensfragen, darunter die Kritik am Friedensvertrag von Versailles, und suhlte sich in der Vorstellung, alle Männer bekehren zu können. Diese Nazis, diese SA -Männer waren irregeleitet, die in der Broschüre Der rote Angriff (eine Paraphrase auf die nationalsozialistische Gauzeitung Der Angriff ) als uniformierte, »ganze« Männer mit strammen Kiefern dargestellt werden, die irgendwie verloren, aber doch respektvoll einen muskulösen, zupackenden Arbeiter betrachten, der ihnen zuruft: Hierher, zu uns!
Und so klang der freche Aufruf an die immer siegreicheren Nazis im Juli 1931 im Aufbruch :
»Jetzt gilt es den revolutionären Weg Lenins zu beschreiten. Scheringer gab uns ein Beispiel. Am 18. März stellte er sich bedingungslos unter die Sturmfahnen des kämpfenden Proletariats! Nationalisten! Hunderte aus euren Reihen stehen schon hinter uns. Morgen werden es Tausende sein. Mut, Kameraden! Brecht zu uns durch!«
Wenn man Nationalismus und Maskulinität miteinander kreuzt, ist das Ergebnis zweifelsohne Militarismus. Und die militärpolitische Ausrichtung des Aufbruch war offensichtlich: Hier konnte man etwas über Kriegslehre und Taktik lesen, Kampftechniken diskutieren und von Clausewitz lernen, nur um immer mehr Scheringers, mehr Mitglieder der
militärischen Intellektuellen, all die, die von Hitler enttäuscht waren, anzulocken. Ihr Chefredakteur war auch ein ehemaliger Angehöriger des Freikorps, Beppo Römer. Auch sein guter Freund Stenbock, der alte Weißgardist, gehörte zu denen, die am häufigsten für die Zeitschrift schrieben. Endlich wurden sozusagen aus Worten Taten, fand er.
Gollnow
Aber es war nicht Stenbock persönlich, der Scheringer umgedreht hatte. Dieser Prozess vollzog sich im Zuchthaus von Gollnow: Dorthin kamen die Straftäter, die wegen Hochverrats verurteilt worden waren. Sie reichten von der äußersten Rechten bis zur äußersten Linken. Gollnow: Hohe, dicke Mauern. Eine richtige Festung. Hier war noch ein nahezu ehrenhafter Geist der Vorkriegszeit lebendig geblieben. Ich sehe sie vor mir, die jungen Männer der Zwischenkriegszeit, in
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