Meine Mutter, die Gräfin
ihren weiten, weißen Hosen mit Aufschlag, ihren Pullundern, ihren Sandalen, ihren zurückgekämmten und im Nacken kurzgeschnittenen Haaren. Nein, das denke ich mir nicht aus; dieses Bild stammt von einer Augenzeugin – Grete.
1925 war sie mit ihren Kindern, zwei kleinen Mädchen, aus Jena zurück nach Berlin gekommen. Sie hatte sich von Rafael Buber scheiden lassen, war in eine Wohnung in der Babelsberger Straße gezogen und lebte fortan das Leben einer leidenschaftlichen jungen Kommunistin. Und da stehen sie plötzlich, diese sparsamen Worte, die mir das Herz – na ja, nicht brechen, aber erzittern lassen: »Seit dem Sommer 1928 lebte ich ohne meine Kinder.« Der Mann, der ihr seinen Namen gegeben hatte, Sohn des berühmten Martin Buber, war aus der Kommunistischen Partei ausgetreten und wurde für die Erziehung der Kinder – für die beiden Mädchen, die Grete »über alles liebte« – als das geeignetere Elternteil angesehen. Und viel mehr steht da nicht. Den Rest kann man sich denken.
Margarete Buber, geborene Thüringer, fand Arbeit bei der Zeitschrift Inprekorr – die Abkürzung für Internationale Pressekorrespondenz . Ein Propagandaorgan der Komintern, das 1921 gegründet worden war und in verschiedenen Nachfolgeorganen, auch noch nach Hitlers Machtergreifung, weiterlebte – in Schweden während des Zweiten Weltkriegs beispielsweise als Världen i Dag (Die Welt).
Wie auch immer, dort am Bülowplatz, im Karl-Liebknecht-Haus, der Parteizentrale der KPD , befand sich seit 1928 also die deutsche Inprekorr -Redaktion, wo ein junger Mann – Heinrich Kurella – arbeitete. Als verantwortlicher Herausgeber, der für irgendeinen Artikel – welchen weiß ich nicht – verurteilt wurde, hatte er »sein Jahr« auf der Festung abgesessen (so etwas wie ein kommunistisches Männlichkeitsritual, könnt' ich mir denken), als der junge Nazi Scheringer dort eingewiesen wurde. Kurella war es, der Scheringer Russisch beibrachte, sodass er Lenin im Original lesen konnte. Und es war auch Kurella, dem Grete, vermutlich im Sommer 1931, einen Besuch abstattete:
»Beladen mit Paketen kam ich in Gollnow an und näherte mich zaghaft dem Zuchthaus mit seiner grauen, drohenden Mauer, hinter der man die schwer vergitterten Fenster der Gefängniszellen sah. […] Noch hatte ich kein Gefängnis von innen kennengelernt, und mir schlug das Herz, als wir den düsteren Hof überquerten. Mein Mitleid mit den armen Gefangenen wuchs mit jedem Schritt. So also sah ein Zuchthaus aus! Hier sperrte man Menschen ein, die nichts anderes verbrochen hatten, als ihre Stimme für das Recht und die Freiheit aller Unterdrückten zu erheben!«
Aber als sie eingelassen worden war, änderte sich dieser erste Eindruck; da begrüßte sie begeistert ein braungebrannter,
»strahlender« Heinrich in weißem Hemd und Sandalen und bat sie, wie die übrigen Gefangenen es auch taten, sich die Zellen anzusehen; die Türen stünden offen und jede Zelle sehe anders aus – Hier, Grete, guck doch mal, hab ich das nicht schön eingerichtet? Einige hatten gar eine kleine Büchersammlung, Blumen oder eine Reiseschreibmaschine in ihren Zellen. Und sie wurde zum Mittagessen in den Speisesaal eingeladen, das gemeinsam eingenommen wurde, während sich ein Teil murrend über das schlechte Essen beschwerte: Suppe, Frikadellen, Blumenkohl und Kartoffeln. Grete wundert sich über die – wie sie glaubt – geradezu heiter-makabre Konversation der Gefangenen: Wer geht zum Schwimmen? Wo fährst du heute hin?
Aber es stellt sich heraus, dass sie tatsächlich die Festung verlassen dürfen – sie können sogar Fahrrad fahren oder mit dem Motorrad zum Baden fahren – na, ja, das sei zwar verboten, aber … Wenn sie ihr Ehrenwort gaben, dass sie nicht flohen und zurückkamen, war es ihnen möglich, sich in der Kleinstadt frei zu bewegen. Terroristen … Hochverrat …
Heinrich stellt Grete Richard Scheringer, seinen Freund und »Schüler«, vor, dem er russischen Sprachunterricht gebe und den er in den theoretischen Marxismus einweihe. Und nach dem Essen brechen sie zu dritt – Grete, Richard und Heini – zu einem Spaziergang nach Gollnow auf, wo sie bei Richards Mutter Kaffee trinken, die ihrem Sohn gefolgt ist, um ihm in seiner Gefängnisnot beizustehen.
Charlotte – wer hält sie so geborgen im Arm?
Der Ordnung halber – und um der Glaubwürdigkeit der Geschichte willen: Es war natürlich nicht allein Heinrich Kurellas Verdienst, dass Scheringer sich vom
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