Meine Mutter, die Gräfin
Nationalsozialismus lossagte. Doch spielte er dabei vermutlich eine mindestens ebenso wichtige Rolle wie sein Parteigenosse und Vorgesetzter Hans Kippenberger, der den Erzählungen zufolge hinter der Schering'schen Metamorphose stand; Kippenberger, der auch Soldat gewesen war und an der West
front gekämpft hatte und der einer der Drahtzieher des kommunistischen Aufstandsversuches 1923 in Hamburg war.
P . S .
Männer und Geschichte. Passt wie angegossen. Untrennbar miteinander verbunden. Wieder lässt sich ein flüchtiger Blick auf sie erhaschen. Immer nur ein flüchtiger Blick. Hier und da ein kurzes Aufblitzen, eine Geste, ein Fuß, ein Lächeln. Doch halt – was heißt schon ein Lächeln? Fotos täuschen – Lächelzwang. Sie ist zweiundzwanzig, als sie nach Berlin kommt. Im Sommer 1931 ist sie fast fünfundzwanzig. Sie ist kein Mädchen mehr, und das Frühjahr 1931 war hart; Ottos Krankheit – ich komme noch darauf zu sprechen – Alexander, der immer nur auf dem Sprung ist – bist du mir treu, Loll? Und du, Alex? Dennoch. Diese unzähligen Menschen,
diese wunderbaren Menschen, die sie nie vergessen wird; diese Nächte, in denen sie getanzt, geflirtet und geraucht und den einen oder anderen zarten Wodka getrunken hat. Diese Zeit, in der ihr das Gefühl sagte, endlich auf dem richtigen Weg zu sein. Für die Wahrheit. Von Nutzen zu sein.
Ich greife erneut nach Thiess' Buch, suche den Text Wort für Wort nach Spuren von meiner Mutter ab. Hier und da finden sich kleine Krumen, die ich gierig auflese: Dass es ihr so leicht fiel, Dialekte nachzuahmen, sodass sie Schwyzerdütsch mit Wolf redete, dass sie den anderen aus der Hand las – was Emilie sie gelehrt hatte, wie ich weiß. Emilies Buch übers Handlesen, das einen wissenschaftlichen Anschein erwecken will, befindet sich sogar noch in meinem Besitz; ich habe sogar meine eigenen Handflächen gründlich studiert und weiß, dass ich in der rechten Hand ein sehr eigenartiges Diagonales Kreuz, ein »Glückszeichen« habe, das man sehen kann, wenn man die Hand unter dem Zeigefinger leicht beugt. Na, wenn das kein Zeichen ist!
Ich lese, wie Erna/Lottie nackt schwimmen geht, wie Erna/Lottie Bowling spielt, wie Erna/Lottie schamlos in Gerties Pyjamas umherläuft, wie Erna/Lottie sich auch wie eine Dame benehmen kann – wenn sie es denn will. Wie Erna/Lottie es liebt, wenn Ferdinand/Alexander Geschichten zum Besten gibt – erzähl, erzähl! Und schließlich findet sich da ein einziger kleiner Passus in diesem Buch über einen unruhigen Sommer, in dem Frank Thiess Erna/Lottie mehr als nur ein oberflächliches, attraktives – wenngleich knochiges – Äußeres gibt. Er läuft ihr über den Weg, als der Abend in die Nacht übergeht und sie nicht mehr als einen Badeanzug anhat. So ist die Szene:
»›Hast du noch einmal gebadet?‹
›Nein‹, antwortete sie, ›aber manchmal kann man sich von seinem Körper nicht trennen.‹
Ich verstand sie nicht gleich. Sie sagte: ›Wenn man Kleider und Schuhe anzieht, dann verschwindet der Körper, so wie die Bäume im Nebel verschwinden.‹«
Februar 1932.
Kapitel 5
»Unruhe und Suche«
Berlin 1930-1932
Aber was passierte daheim? »Das ist ja ganz furchtbar bei Euch«, schreibt Charlotte im Februar 1930 an Emilie, »Ottos Brief war ja ganz trostlos und hat mich richtiggehend geschmerzt. Aber vorläufig soll er nur unten bleiben, denn hier sind die Verhältnisse fast ebenso schlimm.«
Was ist mit Otto? Ist er arbeitslos? – Schon – aber nicht nur das. Er ist auch krank. »Ihr müsst mir sofort berichten, was der Arzt gesagt hat und was die Röntgenuntersuchung ergeben hat«, schreibt sie im Juni 1930 aufgewühlt aus dem heißen Berlin nach Hause.
Otto ist krank, die Geschäfte scheinen schlecht zu laufen, die Lage in Radautz ist politisch angespannt und ihrer Mutter geht es nicht gut – warum schreibt ihr Vater nicht? – »oh, am liebsten würde ich Euch alle einfach einpacken und an einen Ort bringen, an dem Ihr alles habt, was Ihr braucht; es ist schrecklich, nichts tun zu können.« Das soll in der folgenden Zeit, vom Sommer 1930 an, fast zur Litanei werden: Oh, warum kann ich nichts tun! Wenn ich doch nur etwas tun könnte!
»Es ist Lungentuberkulose«, antwortet Emilie ihr, »daran ist nur die ganze Rohkostkur Schuld! Er isst ja noch nicht einmal Eier, Oliven oder nimmt Öl. Das ist schon der vierte Fall dieses ganzen Rohkostelends! Mein armer Otto, nichts bekommt ihm, er hat Durchfall; oh, ich
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