Meine Reise in die Welt der Gewuerze
weit nach Südosten gewandert, bis in das Gebiet des heutigen Irak, hätte er sich bestimmt für einen Wilden gehalten. Denn vor 5000 Jahren entwickelte sich an den Strömen Euphrat und Tigris eine Zivilisation, die eine neue Epoche in der Menschheitsgeschichte einläutete: Mesopotamien, das zunächst von den Sumerern, später von den Assyrern und schließlich von den Babyloniern beherrscht wurde. Sie gaben sich eine Religion, organisierten sich als Staatswesen, lebten in Städten statt Höhlen, trieben Handel und schufen mit den Hängenden Gärten der Semiramis eines der sieben antiken Weltwunder – eine kunstvolle, mehrstöckige Gartenanlage, die der Euphrat bewässerte. So wurde Mesopotamien, das man wegen seiner beiden großen Flüsse auch Zweistromland nennt, zur ersten Hochkultur der Geschichte. Und da die Mesopotamier als erstes Kulturvolk überhaupt eine Schrift entwickelten, haben sie die ersten schriftlich fixierten Kochrezepte der Menschheit hinterlassen. Sie stehen auf Keilschrifttafeln aus dem Jahr 1750 vor Christus, umfassen dreißig Gerichte und sind der älteste unzweifelhafte Beweis für die Verwendung von Gewürzen beim Kochen.
Aber schon um 4000 vor Christus sollen an Euphrat und Tigris die ersten Arzneipflanzen kultiviert worden sein. Das berichtet der antike griechische Naturforscher Theophrast. Keilschrifttafeln aus der Zeit um 3000 vor Christus erwähnen Knoblauch als festen Bestandteil der Nahrung und der Volksmedizin. Koriander war ebenfalls weitverbreitet. Er wurde wahrscheinlich zur Veredelung des Geschmacks benutzt, aber auch wegen seiner verdauungsfördernden Wirkung geschätzt. Dafür, dass die Mesopotamier seine magenfreundliche Wirkung kannten, spricht eine simple Tatsache: Koriander wurde oft zusammen mit schwer verdaulichen Hülsenfrüchten und Zwiebeln angebaut. Sesam wiederum mischte man in den Brotteig, um dessen Geschmack zu veredeln. Auf den Keilschrifttafeln aus dem Zweistromland werden noch viele andere Gewürze und Kräuter erwähnt, etwa Kresse, Dill, Fenchel, Majoran, Minze, Senf, Rosmarin, Safran, Thymian, Wacholderbeeren und Weinraute. Außerdem nutzte man Salz, um Fische haltbar zu machen, und würzte das Bier mit Zimt und Kassia, einer Zimtvariante, die wohl aus China kam.
Der ungeheure Hunger Mesopotamiens auf Gewürze konnte nur mit einem gut funktionierenden Fernhandel gestillt werden. Er erstreckte sich über Tausende von Kilometern hinweg, wahrscheinlich bis nach Indien, Arabien und China. Besonders intensiv muss er zwischen dem 20. und 18. Jahrhundert vor Christus gewesen sein. Dafür sprechen die vielen Handelsvorschriften in den Gesetzestexten des großen Herrschers Hammurabi. In ganz Kleinasien gab es mesopotamische Kaufmannsniederlassungen, etwa in der anatolischen Stadt Kayseri, deren Warenlisten unter anderem gefärbte Stoffe, Kleidung und Tiere aufführten – und vor allem Gewürze.
Und es unterwirft sich dir jeder Feind
Es ist verblüffend, wie allgegenwärtig Gewürze in der Kultur und auch im Alltag Mesopotamiens waren. Ihre größten Liebhaber waren die Monarchen höchstpersönlich. So werden im riesigen Palastarchiv von König Zimri-Lim aus dem 18. vorchristlichen Jahrhundert regelmäßige Lieferungen von Koriander, Kreuzkümmel, Schwarzkümmel und anderen Pflanzen für die königliche Küche erwähnt. König Merodach-Baladan wiederum erließ detaillierte Vorschriften für den Anbau von vierundsechzig Kräutern. Und in dem berühmten »Gilgamesch-Epos« aus dem 12. Jahrhundert vor Christus, einem der ersten Werke der Weltliteratur überhaupt, wird immer wieder davon gesprochen, wie gerne und reichlich die Babylonier Gewürze und Düfte verwendeten. So dankt Utnapischti, der Vater der Menschheit, den Göttern für seine Rettung nach der Sintflut, indem er Zedernholz und Myrrhe verbrennt – und es gelingt ihm tatsächlich, den Zorn der Himmelshüter dadurch zu besänftigen.
Gewürze scheinen im Zweistromland auch sonst ein probates Zaubermittel gewesen zu sein. Aus der grandiosen Bibliothek des Assurbanipal in Ninive, der größten Mesopotamiens, ist das Rezept eines assyrischen Magiers überliefert, mit dem die Kraft eines übermächtigen Feindes gebrochen werden kann: Man muss Koriander, Kümmel, Schwarzkümmel und Emmer – eine Weizenart – gründlich zerreiben, in Bier geben und schließlich die Götter um Gnade anflehen. Danach soll man den Namen seines Feindes auf eine Tafel schreiben, eine Kugel aus Ton formen, die Tafel in die Kugel
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