Meine Schwester ist eine Mönchsrobbe - Frascella, C: Meine Schwester ist eine Mönchsrobbe
vorhatte. Und Chiara mitsamt ihrer Familie um drei Uhr morgens zu wecken war wirklich ein saumäßig schlechter Plan.
»Steigst du nicht aus?«
»Einen Moment.«
Aber ich stieg sofort aus. Ich sagte, dass ich ihn anrufen würde, wie vereinbart. Er nickte und warf durch das halb geöffnete Fenster einen Blick auf das Haus, als erwarte er, dort irgendwas zu sehen.
»Fährst du jetzt oder nicht?«, fragte ich entnervt.
Er lächelte, kurbelte das Fenster wieder hoch, und die Schrottkarre entfernte sich in der Dunkelheit, um sofort vom Regen verschluckt zu werden. Eine Sekunde lang war ich versucht, ihm hinterherzulaufen und mich nach Hause bringen zu lassen. Aber dann dachte ich, dass er mich ausgelacht hätte, und mich durfte niemand auslachen, nicht mal irrtümlicherweise.
Ich hob den Kopf und kniff die Augen zusammen. Schon jetzt war ich völlig durchnässt. Wer weiß, auf welchem Stockwerk die Lovergia wohnten. Ich ging zum Klingelbrett: Da waren sie, vierter Stock rechts. Ich machte ein paar Schritte rückwärts, trat unter dem kleinen Vordach hervor und stand wieder im Platzregen. Noch einmal schaute ich am Haus hoch. Kein einziges Licht. Ich war verrückt, ich musste von hier verschwinden.
Aber ich ging wieder zu den Klingeln und drückte einmal ganz kurz auf den Knopf. Als ich den Finger von dem erleuchteten Knopf nahm, bekam ich keine Luft mehr. Scheiße, was habe ich getan? dachte ich. Ich bin wirklich ein Vollidiot! Gerade wollte ich abhauen, als eine metallische Stimme, eine Stimme, auf der die ganze Müdigkeit der Welt zu lasten schien, »Wer ist da?« fragte.
Ich hatte immer noch Zeit, mich zu verdrücken.
»Wer ist da?«
Ich konnte nicht erkennen, ob es Chiara war, aber es war auf jeden Fall eine Frauenstimme. Allerdings konnte es jede andere sein: die Mutter, die Schwester, die Haushaltshilfe …
»Wer ist denn da?« Das war schon fast ein Schrei, und er kam zweifellos von Chiara.
Ich atmete tief durch und sagte: »Ich bin’s.«
War ich es?
Eine Zeitlang hörte ich gar nichts. Sekunden wie Jahre. Ich alterte vor ihrer Haustür.
»Was willst du um diese Zeit?«
»Ich wollte dich nicht wecken, entschuldige bitte.«
Wieder eine Pause. »Du hast mich nicht geweckt. Was ist los? Ist etwas passiert … deinem Vater?«
Diesmal blieb ich stumm. Ja, meinem Vater war etwas passiert, aber irgendwie war auch gar nichts passiert. Ich war es. Mir war etwas passiert.
»Hallo«, machte sie mit einem metallischen Zischen.
»Nein«, antwortete ich. »Nichts ist passiert.« Dann: »Ich habe sie alle aufgeweckt … oder?«
»Wen alle?«
»Deine Familie.«
»Du wusstest nicht, dass ich allein lebe?«
Der Regen fiel schräg und prasselte mir hart gegen die Jacke, als wollte er meine Aufmerksamkeit erregen.
Die Gegensprechanlage zischte wieder. »Warum bist du hergekommen?«
»Es regnet«, sagte ich. »Ich weiß es nicht.« Doch ich wusste, warum: Ich fühlte mich einsam, ich hatte Angst.
»Komm rauf.« Mit einem Ruck öffnete sich die Tür. Ich trat ein und machte ein paar langsame Schritte im schwachen Licht des Eingangs. Oben im Treppenhaus hörte ich eine Tür aufgehen. Einen Fahrstuhl gab es nicht, ich begann, die Treppen hinaufzusteigen. Sehr langsam. Ich brauchte eine Ewigkeit.
Auf dem Treppenabsatz des vierten Stocks angekommen, sah ich die Tür auf der rechten Seite halb offenstehen. Ich klopfte leise. Und sie machte die Tür auf.
Sie trug ein weißes T-Shirt und die Hose eines Trainingsanzugs, die sie angezogen haben musste, während ich die Treppe heraufkam. Die ungekämmten Haare fielen ihr über die Augen.
»Nun?«, fragte sie, den Kopf zur Seite geneigt.
Sie war barfuß, und ihre Gestalt schirmte das Licht im Flur ihrer Wohnung ab. Ich trat ein wenig zur Seite, so dass die Neonleuchte auf der Treppe ihr Gesicht beleuchtete: Ohne Schminke traten ihre Züge klarer und schöner hervor. Sie hatten etwas Sauberes und Warmes.
»Also …«, sagte ich.
Sie betrachtete mich, dann sagte sie: »Zieh dir die Schuhe aus und lass sie auf der Fußmatte stehen. Und komm noch nicht rein. Ich bringe dir ein Handtuch.« Sie wollte in die Wohnung gehen, dann drehte sie sich wieder um. »Zieh dir auch die Socken aus, sonst machst du mir den Fußboden dreckig.«
Ich gehorchte und hoffte, dass meine Füße nicht stanken. Als ich meine Socken zusammengerollt in die Schuhe steckte, kam sie mit einem Handtuch und einem Paar Holzschuhen zurück, die sie vor mich hinstellte. »Probier mal, ob du die
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