Meine Schwester lebt auf dem Kaminsims: Roman (German Edition)
Zum ersten Mal seit fünf Jahren. Und meine silbrigen Tränen fielen auf Rogers oranges Fell.
21
Ich fand es schrecklich, dass Roger so kalt war. Er war zu lange draußen gewesen. Ich machte meine Jacke auf und legte Roger auf mein Spider-Man-Shirt. Dann zog ich den Reißverschluss wieder zu, damit Roger geschützt war. Der Wind war kalt, und es fing wieder an zu schneien. Rogers Kopf guckte aus der Jacke raus, und ich küsste ihn vorsichtig. Seine Schnurrhaare kitzelten mich am Mund.
Ich trug ihn heim. Machte einen Bogen um alle Glatteisstellen auf dem Weg, damit ich nicht ausrutschte. Wegen meiner Tränen konnte ich unser Haus kaum erkennen, aber ich ging die Zufahrt entlang und gleich nach hinten in den Garten. Dabei redete ich die ganze Zeit mit Roger. Ich erzählte ihm, wie toll Jas bei unserem Auftritt gewesen war. Dass ich den Text von unserem Lied zum ersten Mal verstanden und mich vielleicht deshalb verändert hatte. Ich erzählte ihm, dass ich ihn aus dem Wohnzimmer ausgeschlossen hatte, weil ich mit dem Auftritt Mum beeindrucken wollte. Ich erklärte ihm, dass ich die Tür zugemacht hatte, weil ich proben wollte, und dass ich Mum beeindrucken wollte, weil ich dumm war und erst zu spät kapierte, dass es dafür schon längst zu spät war. Ich flüsterte Mum lügt, und sie hat mich verlassen, und sie wird mich nie liebhaben, egal was ich mache . Ich wünschte mir, Roger würde schnurren oder miauen, um mir zu zeigen, dass er mir verzieh. Aber er war ganz still.
Ich kam zum Teich. Ich wusste nicht, was ich mit meinem Kater tun sollte. Ich wollte ihn nicht begraben. Mir wurde fast übel, als ich mir vorstellte, wie er in der Erde vermoderte, und ich drückte ihn fest an mich. Er sollte bei mir bleiben, ganz nah, auch wenn sein Blut überall auf mein T-Shirt tropfte.
Aber ich wusste schon, dass ich irgendwas tun musste. Roger hatte ein ordentliches Begräbnis verdient. Ich dachte an meine Schwester auf dem Kaminsims. Es wäre schön, wenn mein Kater auch dort sein könnte. Ich stellte mir eine orange Urne für seine Asche vor. Dann würde ich weiter mit ihm reden, ihn streicheln und umarmen können, wann immer ich wollte. Und plötzlich wurde mir alles klar. Plötzlich verstand ich es. Warum Rose in der Urne auf dem Kaminsims stand. Warum Dad ihre Asche nicht ins Meer streuen konnte. Warum er ihr am Geburtstag Kuchen hinstellte und warum er sie anschnallte und warum er an Weihnachten eine Socke neben die Urne hängte. Er konnte sie nicht loslassen. Er liebte sie zu sehr, um Abschied von ihr zu nehmen.
Ich fiel auf die Knie und drückte mein Gesicht in Rogers Fell und weinte, bis ich keine Luft mehr kriegte. Rotz lief mir aus der Nase, und mein Kopf hämmerte, und mein Gesicht war geschwollen, aber ich konnte nicht aufhören. Ich hörte, wie hinter mir ein Fenster aufging und wie Dad rief Komm rein, Jamie. Es ist eiskalt draußen .
Wenn ich Roger nicht behalten konnte, dann wollte ich wenigstens seine Asche. Ich suchte mir zwei Äste, hielt einen mit den Füßen fest, nahm den anderen in die rechte Hand und rieb das Holz aneinander. Roger hielt ich mit dem linken Arm fest und sang ihm dabei ins Ohr, damit er das Reiben nicht hörte und keine Angst kriegte. Aber das klappte nicht. Die Äste waren zu feucht.
Ich hörte, wie die Hintertür aufging, und drehte mich um. Dad. Es ist eiskalt , sagte er noch mal, dann blieb er stehen. Roger .
Dad zog mich auf die Beine und umarmte mich so fest wie noch nie. Die Umarmung war stark und fest und gut, und ich drückte mein Gesicht an Dads Brust. Meine Schultern zuckten, und ich keuchte, und meine Tränen machten Dads T-Shirt ganz nass. Er machte nicht Schsch , und er sagte nicht Beruhig dich , und er fragte nicht Was ist los . Er wusste, dass der Schmerz zu schlimm ist für Worte.
Als keine Tränen mehr übrig waren, klopfte Dad mir auf den Rücken und zog meine Jacke auf. Ich ließ ihn machen. Ganz vorsichtig und lieb nahm er mir Roger aus dem Arm und legte ihn auf den Boden. Er berührte Rogers Augen und schloss sie. Die Murmeln verschwanden. Roger sah jetzt aus, als schliefe er fest.
Warte hier , sagte Dad. Seine Augen waren traurig, aber sein Mund sah entschlossen aus. Er ging ins Haus. Eine Minute später kam er wieder raus, mit einem Spaten und einem kleinen Gegenstand, den er in seine Tasche steckte. Ich sagte Einäschern , aber Dad antwortete Wir können im Schnee kein Feuer machen . Ich wollte Roger hochheben und ihn wegtragen. Mein Kater sollte nicht in
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