Meine Schwester und andere Katastrophen
erzählen würde. Sie würde unter dem Druck zerrieben. Ich muss eines klarstellen, was Lizbet angeht: Lizbet lebt seit Jahren glücklich und gemütlich mit Tim zusammen. Sie führen ein lustiges, kleines Pärchenleben zu zweit. Unterhaltsame, wenig stressige Jobs, keine Kinder, kein Kinderwunsch, nur bedeutungsloser Sex und allgemeine Oberflächlichkeit. Sie mag keine Veränderungen. Und was die Familie angeht, mag sie das, was sie kennt, selbst wenn das, was sie kennt, nicht besonders aufregend ist. Die Offenbarung, dass ihre Kindheit und unsere Beziehung auf einer Lüge beruhen, würde sie tief verletzen. Ich wollte nicht diejenige sein, die ihr diese Wunde zufügt. Jedenfalls sollten Daddy und Mummy ihr alles erklären, falls sie jemals davon erfahren sollte. Ich hatte das Gefühl, dass ich für diese Lüge nicht verantwortlich war.
Trotzdem konnte ich mir wenigstens zusammenphantasieren, dass ich Lizbet zur Beruhigung an meiner Seite hätte, wenn die große Wiedervereinigung mit meiner Mutter stattfinden würde. Falls ein verlegenes Schweigen drohte, würde Lizbet es überbrücken können, indem sie sich mit dem ihr eigenen Lächeln vorbeugte, jenem Lächeln, das einen von innen wärmte wie eine Tasse heiße Schokolade, und die perfekte Frage stellte, die Sarah Paula dazu bringen würde, aus sich herauszugehen. Ich hatte Angst, dass ich blöde schweigend vor ihr hocken könnte, die Hände unter den Hintern geschoben, ein dämliches Grinsen im Gesicht - ich , Cassandra Gabriella Montgomery, die sich von nichts und niemandem
einschüchtern ließ - weil fast alle Leute darin gleich waren, dass sie mir nichts bedeuteten.
Ich rätselte, ob ich sie wohl wiedererkennen würde. Schließlich waren wir uns schon einmal begegnet. Ich erzählte George, dass ich meine Mutter ausfindig machen wollte, und ihm fiel keine bessere Antwort ein als: »Schräg.« (Und zwei Minuten später: »Cassie! Die Katze deiner Schwester hat in meine Sporttasche gepisst!«)
Ich hatte fest damit gerechnet, dass er mich verstehen würde, aber das tat er nicht, und ich sah, wie sich in diesen Sekunden eine Kluft zwischen uns auftat. Ich will keine Scherze über den Moment machen, in dem meine Ehe zu Boden fiel und zerbrach, aber die geistige Landschaft war fast wie aus Tremors - im Land der Raketenwürmer.
» Musst du das denn?«, fragte er später nach. »Ich könnte das verstehen, wenn du noch achtzehn wärst.«
Mir gefror das Herz. Ich wusste, dass er selbstbezogen war, aber ich hatte immer angenommen, dass seine Selbstbezogenheit nicht nur ihn betraf, sondern mich einschloss. Dass ich mit meinen Eltern nur oberflächlichen Umgang hatte, gefiel ihm, wie ich zutiefst getroffen erkannte. George wollte nicht vom Thron gestoßen werden. In diesem Augenblick hatte ich jede Achtung vor ihm verloren. Wenn er nicht verstand, warum es mir so wichtig war, meine leibliche Mutter zu finden, dann hatte er keine Achtung vor dem, was ich, als verlassenes Baby, durch diesen Akt des Weggebens erlitten hatte. (Ehrlich gesagt hatte ich nicht das Gefühl, allzu viel erlitten zu haben, aber das brauchte George nicht zu wissen. Hier ging es ums Prinzip.)
Immerhin sprach er mit Mummy, die bei uns anrief, angeblich, »um nachzufragen, ob du die E-Mail bekommen hast« (ein Foto von einem Eichhörnchen auf Wasserskiern). Dann
sagte sie aus heiterem Himmel zu George: »So. Es könnte also doch noch gut für Cassie ausgehen«, und in diesem Moment wusste ich, dass sie Angst hatte. Die Rolle der Mutter wird gewöhnlich nur mit einer einzigen Person besetzt. Und doch versuchte sie - im Gegensatz zu George - sich in meine Lage zu versetzen. Sie tat mir fast leid, weil ich das Gefühl hatte, dass sie als Mutter gar nicht anders konnte.
»Sag Cassie, sie soll mich anrufen, wenn sie irgendwann Zeit hat«, hatte sie gesagt, aber ich hatte es nicht getan. Ich entwickelte einen Tunnelblick. Klar, mein Leben war schön, aber plötzlich bekam ich ein ganz neues Leben dazu. Und wollen wir nicht alle ab und zu ein neues Leben anfangen? Ich war wie ein linkischer, von romantischer Liebe träumender Backfisch: Die Details waren noch verschwommen, aber die generelle Richtung war klar. Arm in Arm über wogende Blumenwiesen schlendern, lachend bei einer Tasse Kaffee in einer riesigen hellen Küche sitzen, durch deren Fenster das Sonnenlicht flutet - vielleicht wohnte sie ja irgendwo in der Wärme? Ich hatte keinen Zweifel daran, dass sie ihren Eltern nie verziehen hatte, nachdem die
Weitere Kostenlose Bücher