Meine Schwester und andere Katastrophen
beiden sie gezwungen hatten, mich wegzugeben. Ich hätte es verstanden, wenn sie so weit weggezogen wäre wie nur möglich.
Greg würde mir ihre Adresse beschaffen, und dann würde ich sie erst einmal ausspionieren, herauskriegen, wie sie aussah, beobachten, wie sie ihr Leben lebte, und ihr zuletzt schreiben. Das Handbuch für Adoptivkinder listete ausführlich auf, aus welchen Gründen es vorteilhaft ist, einen Mittelsmann einzuschalten, aber ich war ergriffen von dem Drang, persönlich in Kontakt mit ihr zu treten. Ja, es war wahrscheinlich vernünftiger, vorsichtig zu sein und alles in Ruhe angehen zu lassen, aber ich war ungeduldig. Mein Verstand hatte keine Chance gegen mein rasendes Herz. Tatsächlich
traute ich mir kaum zu, sie auszuspionieren. Ich sah mich aus dem Auto springen und über die Straße rennen und in ihre Arme fallen. Oder höchstens ganz ruhig auf sie zugehen und sie fragen: »Verzeihung, ich suche die Bücherei, können Sie …?«, ohne dass ich den Satz je zu Ende bekäme, weil sie mich mit hungrigem Blick anstarren würde und wir einander in die Augen sehen würden, jedes noch so kleine Detail verschlingend, und sie im selben Moment erkennen würde, dass ich ihr lang verloren geglaubtes Baby war.
Ich hatte einen Brief aufgesetzt. Oder besser gesagt einen zweiten Brief. Der erste Brief, den ich geschrieben hatte, bevor ich ihre Briefe gelesen hatte, war nicht wirklich … passend.
Sarah Paula,
Sie werden mich als Jane Susan in Erinnerung haben. Entschuldigen Sie, dass ich Ihnen schreibe - meine Neugier lässt mir einfach keine Ruhe. Mir ist bewusst, dass wir Fremde sind, und ich habe nicht den Wunsch, mich in Ihr Leben zu drängen. Trotzdem besteht meinerseits ein gewisses Interesse daran zu erfahren, woher ich komme - in streng biologischer Hinsicht -, weshalb ich mich gern mit Ihnen unterhalten würde. Vielleicht entscheiden Sie sich dagegen - ich wäre Ihnen trotzdem dankbar, wenn Sie mir höflicherweise auf die eine oder andere Weise antworten würden.
Mit freundlichen Grüßen
»JS«
Ich las ihn Mrs Hershlag vor. George hatte seinen Mund nicht halten können, doch es war tatsächlich gut, sie an meiner Seite zu haben. Sie hatte Mitleid mit Mummy, aber noch mehr Mitleid mit mir. Mrs Hershlag ging so in ihrem Mutterdasein
auf, dass es ihre ganze Welt durchdrang, und darum würde ich für sie, in gewisser Hinsicht, immer »ein mutterloses« Kind bleiben. Sie konnte diese Vorstellung kaum ertragen und war fast so versessen wie ich darauf, dass diese Tragödie ein gutes Ende nahm.
Sie hatte gesagt: »Ach, Cassie. Das ist ein netter Brief. Aber … also, Schätzchen … er ist es nicht wirklich, oder? Ich finde es auch gesund, deinem Ärger Luft zu machen, das ist nur positiv. Aber ich glaube ehrlich, wenn ich deine Mutter wäre und so einen Brief bekäme, würde ich, also, vielleicht einen bewaffneten Leibwächter anheuern. Es ist nur so ein Gedanke, aber vielleicht ist das ja nur dein erster Entwurf ?«
Liebste Sarah,
ich hoffe, es macht dir nichts aus, dass ich schreibe. Bei Gott, das hoffe ich wirklich. Ich bin (oder war) Jane Susan, und ich glaube, ich könnte deine Tochter sein. Na schön. Ehrlich gesagt weiß ich, dass ich deine Tochter bin. Ich bin rundum zufrieden und glücklich (das habe ich aus dem Handbuch für Adoptivkinder; ich nehme an, es ist ein Code für »ich bin nicht total durchgeknallt«), aber ich würde dich liebend gern wiedersehen. Um die Wahrheit zu sagen, ich kann an nichts anderes mehr denken. Ich habe dir nicht schon früher geschrieben, weil ich erst jetzt die Briefe gelesen habe, die du der Adoptionsagentur geschickt hattest, und den Davidsstern gesehen habe. Ich fühle mich schrecklich dumm deswegen. Nur zu deiner Beruhigung: Ich war auf der Universität und bin eine erfolgreiche Anwältin. Ich glaube, du wärst stolz auf mich. Ach ja! Und ich heiße jetzt Cassandra Gabriella Montgomery - aber keine Sorge, ich bin nicht allzu eingebildet! Ich hatte eine schöne Kindheit. Meine
Adoptiveltern sind nett, und ich habe eine wunderbare Schwester namens Lizbet - ich würde mich freuen, wenn ihr euch eines Tages kennen lernen würdet. Aber es ist so, dass ich dich vermisse und dich immer vermisst habe. Ich hoffe, ich jage dir damit keine Angst ein, aber nach allem, was du in deinen Briefen schreibst, bin ich zuversichtlich, dass ich das nicht tue. Ehrlich gesagt bin ich keineswegs zuversichtlich, sondern halb verrückt vor Angst, aber ich kann immer noch
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