Meine Schwester und andere Katastrophen
träumen. Für mich hängt hiervon so vieles ab - wenn nicht alles. Ich hoffe, dass es für dich nicht anders ist. Ich weiß, du hast dein Leben - wie ich meines habe -, aber ich muss dich besuchen, dich sehen, dich berühren. Den letzten Satz hätte ich fast wieder ausgestrichen, um dich nicht zu verschrecken, aber wenn du immer noch dieselbe Frau bist, die diese Briefe schrieb, dann weiß ich, dass ich dich unmöglich verschrecken kann. Trotz allem, was du damals tun musstest, sollst du wissen, dass niemand sonst so sehr meine Mutter ist wie du.
Mit aller Liebe und Hoffnung
»Jane Susan«
Diesen Brief zeigte ich keinem Menschen. Ich wusste genau, was alle sagen würden - »Du musst ihn abschwächen, du musst zaghafter sein« -, und ich würde ihnen nicht widersprechen können, ich hätte an ihrer Stelle das Gleiche gesagt. Aber, ganz ehrlich, er war bereits abgeschwächt. Soweit es ging. Außerdem kannten sie Sarah Paula nicht; sie hatten ihre Briefe nicht gelesen. Vielleicht würde mein Brief all jenen, die keine Ahnung hatten, wie ein verzweifelter Bettelbrief vorkommen, aber ich wusste, dass meine leibliche Mutter ihn höchstens distanziert finden würde.
Als es an jenem Abend läutete, dachte ich, es sei George, der seinen Schlüssel vergessen hätte, aber es war Greg.
»Hallo! Was für eine nette Überraschung!«
»Cassie«, sagte er. »Ich habe sie gefunden.«
»O Gott, ich wusste es, ich wusste, dass du es schaffst! Du hättest nicht persönlich zu kommen brauchen, du hättest auch anrufen können! Komm rein, komm rein - bleib nicht vor der Tür stehen -, du siehst so ernst aus, wie du so vor der Tür stehst, fast wie ein Polizist mit … einer schlechten Nachricht … der … mitteilen muss … o nein … o nein, nein … bitte, Greg, geh jetzt …«
Ich versuchte, ihm die Tür vor der Nase zuzuschlagen, aber die Kräfte verließen mich, und ich sank zu Boden. Er zwängte sich in den Hausflur und hockte sich neben mich.
»O Cassie«, flüsterte er und strich mir übers Haar. »Sie starb letztes Jahr. Sie ist einfach … gestorben. Es … es tut mir so schrecklich, schrecklich leid.«
KAPITEL 10
Es gab noch mehr Verwandte, aber die interessierten mich nicht. Ich wollte keine neuen Cousins, keine weiteren Großmütter oder Tanten - Tanten gibt es wie den verfluchten Sand am Meer -, ich wollte meine Mutter, und ich wusste, wenn ich auf meine Verwandten treffen würde, wäre ich wütend auf sie, weil sie noch lebten, während meine Mutter tot war. Ich würde ihnen kaum ins Gesicht sehen können. Greg sagte: »Sie stoßen jedes Jahr zu deinem Geburtstag auf dich an, Mädchen«, und ich spürte einen Stich. Meine Hände zuckten, und wieder hätte ich Sarah Paula liebend gern eine verpasst, weil sie ein so schwaches Herz und mich zum zweiten Mal im Stich gelassen hatte.
Greg wollte bei mir bleiben, aber ich schickte ihn weg. Er bat mich, George anzurufen - der mit seiner Crew den Abschluss einer Aufnahme feiern war -, aber ich hatte keine Lust auf George, den selbstzufriedenen, undankbaren George mit seiner Gratispackung »liebende Eltern«. George würde versuchen, mich in den Arm zu nehmen, und das wollte ich auf gar keinen Fall. Er würde sagen , dass es ihm leidtat, aber insgeheim würde ihm ein Stein vom Herzen fallen. Meine Haut juckte, ich hätte keine Berührung ertragen. Ich wollte nur noch weg. Ich brauchte einen freien, grenzenlosen Himmel, unter dem ich mich über eine wogende Blumenwiese laufen sah, und zwar ganz allein.
Ich nahm den Brief, den ich an Sarah Paula geschrieben hatte, und faltete ihn zusammen, knickte ihn noch einmal und noch einmal, bis ich ihn so klein wie möglich zusammengefaltet hatte, und dann gab ich einen gurgelnden Laut von mir und schleuderte ihn an die Wand. Ich stand auf, atmete tief ein und langsam wieder aus, und dann strich ich mein Haar und meinen Rock glatt. Ich wusch mir das Gesicht und trank ein Glas Eiswasser. Ich hob den Brief vom Boden auf und warf ihn in die Schachtel mit ihren Briefen und den übrigen Dokumenten. Und dann schubste ich die Schachtel so fest unters Bett zurück, dass sie mit einem »Bonk« gegen die Wand schlug.
Es war achtzehn Uhr siebenunddreißig. Ich spielte mit dem Gedanken, zum Laden an der Ecke zu gehen und eine Zehnerschachtel Marlboro Lights zu kaufen. Ich brauchte was zu rauchen. Ich hatte ungefähr zehnmal damit aufgehört, aber die Sucht ließ sich immer noch in Sekundenschnelle aus ihrem Tiefschlaf erwecken. In meiner
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