Meine Schwester und andere Katastrophen
Phantasie schmeckte ich kurz den Rauch auf der Zunge und füllte meine Lunge mit köstlichem Gift. Ich sah lange aus dem Fenster. Der Garten wirkte so kalt und still, als hielte er den Atem an. Mitten auf dem Rasen stand ein kleiner Baum mit hässlichen gelbgrünen Blättern, bei dessen Anblick ich ein schmerzhaftes Reißen in meiner Brust spürte. Und so holte ich Georges Gartenaxt aus dem Schuppen (das bis dato unbenutzte Geschenk eines Freundes) und begann, auf den Baum einzuhacken.
Tack, tack! »Schätzchen! Schätzchen! Lady Cassandra von und zu Montgomery! Was soll die verdammte Kacke?«
Ich sah auf und erblickte meinen Nachbarn Peter-den-Friseur, der sich aus seinem Schlafzimmerfenster lehnte. Er sah besorgt aus.
»Ich haue - ha! - diesen - ha - BAUM - ha - um!«
»Äh, hallo - wie wär’s mit einer Schutzbrille , Cass?«
»Brauch - ha - ich - ha - nicht!«
»Du brauchst bestimmt keine mehr, wenn dir ein Holzsplitter ins Auge geflogen ist und du blind bist, Süße. Na schön, in Gottes Namen, ich halte das nicht aus, ich werf dir meine Oliver Peoples runter.« Er überlegte kurz. »Und ich würde an deiner Stelle diese hochhackigen Dinger ausziehen. Nur so als Gedanke.« Ich antwortete nicht. Er schüttelte den Kopf und machte das Fenster zu. Dann riss er es wieder auf. »Okay, ich bin schwul, was verstehe ich schon vom Bäumefällen? Aber einen Tipp hätte ich noch: Fang mit den kleineren Ästen an, sonst FÄLLT DER BAUM AUF DICH DRAUF !«
Einen Baum umzuhauen ist anstrengender, als man meint. Immer wieder blieb die Axt in der Rinde stecken. Ich begann vor Erschöpfung zu taumeln und musste mir ständig die Haare aus dem Gesicht pusten. Der Schweiß brannte mir in den Augen und floss mir salzig in den Mund, bis ich mit dem Ärmel meines rosa Karen Miller- Jäckchens über die Stirn wischte. Während ich hackte, keuchte ich: »Leck - ha - mich - ha - doch - ha - ich - ha - hasse - ha - dich - ha - du - ha - blöde - ha - Kuh!«
Ich wusste selbst nicht, wen ich damit meinte. Wahrscheinlich die Schicksalsgöttin. Meine Hände waren von Blasen überzogen wie eine Knisterfolie, und Arme, Schultern und Rücken brannten wie Feuer, aber ich konnte nicht aufhören. Weil ich längst nicht so viel ausrichten konnte, wie ich wollte, holte ich zu einem wütenden Schlag gegen den Stamm aus, verlor das Gleichgewicht und fiel hin. Ich landete rücklings im Gras, die Axt flog mir aus der Hand und schlitzte mir die Handfläche auf. Ein paar Sekunden krabbelte ich keuchend im Dreck herum, dann richtete ich mich mühsam
wieder auf. Schon jetzt war meine Hand blutig und glitschig. Schmerzen hatte ich keine, aber ich bekam keine Luft, ich hechelte hektisch und flach wie eine Katze.
Peters Fenster flog auf, und er brüllte: »Jetzt reicht’s! Mir langt’s, ich komme jetzt rüber!«
»Nein, nicht«, flüsterte ich, aber er hörte mich nicht. Weil der Baum immer noch stand, windschief und mitgenommen, aber aufrecht, wie um mich zu verhöhnen, stieß ich einen schrillen Schrei aus und warf mich dagegen. Der Stamm zersplitterte mit einem ekligen Knirschen, es folgte ein unheilverheißendes Rauschen und dann ein dumpfer Schlag, als die Krone auf dem Boden auftraf.
Peter verband meine Hand und machte mir eine Tasse Tee - ich trinke nie Tee, nur Kaffee mit Vollmilch, aber ich leerte sie in einem Zug. Als er mich von Nahem betrachtete, hörte er auf, Witze zu reißen.
»Hat George dich verlassen?«, fragte er, und ich schüttelte den Kopf.
»Das hätte mich auch überrascht«, seufzte er. »Es ist was Schreckliches, nicht wahr?«
Falls ich mit irgendwem darüber gesprochen hätte, dann mit Peter - die Menschen breiteten ihr Seelenleben vor ihm aus, bevor er auch nur ihren Pony gestutzt hatte -, aber ich brachte kaum einen Satz heraus. Ich spürte, wie ich mich wie eine Muschel hermetisch verschloss und all meine Emotionen tief im Innersten verbarg. Ich schämte mich. Ich widerte mich an. Der Brief, den ich geschrieben hatte - erbärmlich. Ich hatte das Gefühl, mich öffentlich lächerlich gemacht zu haben, ganz umsonst. Ich war wie eine Schauspielerin, die überall mit ihrem genialen Vorsprechen für die Hauptrolle geprahlt hatte, eine Rolle, die ich mit Sicherheit bekommen und für die ich schon in Kürze Ruhm und allgemeine Bewunderung
ernten würde … Und dann war ich leer ausgegangen, und alle Welt lachte über mich. Wem hatte ich von Sarah Paula erzählt? Gott sei Dank nicht Lizbet. Aber Greg. Mummy und Daddy.
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