Meine Seele weiß von dir
umfangen und ich wünsche mir, seine Augen wären von Leidenschaft verschleiert, wie sie es waren, wenn wir uns geliebt haben. Stattdessen sind sie wach und wissbegierig und strahlen eine gewisse Kühle aus.
Mein Mund ist trocken, mich fröstelt, und über eine Tasse heißen Kaffee wäre ich jetzt mehr als froh. Aber ich beklage mich nicht.
Die Sonne steigt allmählich höher. Ihre wohltuende Wärme legt sich um meinen ausgekühlten Körper. Unter ihrer Berührung wölbe ich meinen Rücken vor Wohlbehagen und mache einen Buckel.
Leander hört zu, ohne mich noch einmal zu unterbrechen. Manchmal lächelt er, beißt die Zähne zusammen oder schüttelt den Kopf. Seine Miene verdüstert sich, drückt Unglauben aus, seltener hellt sie sich auf.
Als ich fertig bin, sitzen wir noch immer nebeneinander am Beckenrand. Wir berühren uns nicht und schauen uns nicht an. Wir schweigen. Minutenlang fällt kein Wort zwischen uns.
Inzwischen ist aus der ersten Vogelstimme ein Chor geworden. Und in der Ferne, wenn auch noch vereinzelt, hört man das eine oder andere Auto. Ich kann nur raten, wie spät es ist, doch es kann nicht mehr allzu lang dauern, bis Frau Hischer kommt.
Ich möchte irgendetwas zu Leander sagen, doch ich bin unfähig, mich auszudrücken. Alles würde sich nur plump, hohl und abgedroschen anhören. Phrasen, nichts als Phrasen.
Ich wünsche mir verzweifelt, dass mir ein neues Wort einfällt. Eines, in dem alles liegt, was ich ihm sagen will: dass ich am liebsten aus den Annalen der Zeit löschen will, was geschehen ist. Dass ich sicher bin, er wird nicht vergessen können, was ich getan habe. Genauso wenig wie ich. Und trotzdem hoffe ich, dass er es schafft, mir zu verzeihen und mich zu lieben.
Das Wort müsste lang sein und schön klingen, wie ein Ton in einem wunderbaren Musikstück vielleicht. Es müsste ein Wort sein, das alles heil macht, mächtiger als ein Zauberspruch in einer geheimnisvollen Sprache, mächtiger als ein Gebet. Aber es gibt dieses Wort nicht. Und mir, mir fällt kein neues ein. Folglich halte ich den Mund.
Aus den Augenwinkeln erkenne ich, dass Leander eine Hand hebt, sich über die Stirn fährt, als wollte er etwas fortwischen, und mich danach ansieht.
Ich wende mich ihm zu.
In seinem Gesicht arbeitet es. Es ist blass und übernächtigt. Unter den Augen liegen Schatten und ich sehe die Qualen darin wie in einem Spiegel. Mir ist, als würde sein Gesicht mein Gefühlsleben reflektieren.
Plötzlich, wie auf ein unsichtbares Kommando hin, strecken wir die Hand nach einander aus. Es ist jeweils die linke, die Hand des Herzens, und wir berühren gegenseitig unsere Gesichter, wischen uns mit den Daumen unsere Tränen fort. Vorsichtig, als wären sie aus Glas und könnten zersplittern und uns noch mehr verletzen. Unsere Bewegungen sind bedächtig und sehr, sehr behutsam.
Augenblicke später flüstert er etwas in mein Haar.
„Hm?“, mache ich.
„Verzeih mir ... aber ich habe keine Ahnung, was ich tun soll“, wiederholt er und schaut mich niedergeschlagen an. „Ich muss nachdenken, Sina.“
„Ja. Ich verstehe dich.“
Ich tue nichts, als er sich von mir löst. Nichts, als er aufsteht. Nichts, als er geht.
Nichts, nichts, nichts!
Kapitel 41
Leander hat sich den vierten Tag in Folge nicht gemeldet. Wir haben kein weiteres Gespräch miteinander geführt, keinen Kontakt zueinander gehabt, uns nicht gesehen.
Ich bin ratlos, ob das ein gutes oder schlechtes Omen ist. Entfernt er sich von mir? Kommt er zu mir zurück? Ich kann es nicht sagen. Doch ich weiß intuitiv, dass ich Leander diese Zeit zubilligen muss. Und so unternehme ich nichts, um die Situation zu ändern.
Im Gegenteil. Im Augenblick sitze ich wieder in meinem Schrank, vor der Welt verborgen wie eine Perle in ihrer Austernschale auf dem Meeresgrund, und inzwischen gelingt es mir, nicht jede Sekunde des Tages an Leander zu denken. An den Minuten arbeite ich noch.
Meine einzige Gesellschaft bin ich mir selbst. Wir haben Ferien. Heiko ist mit seiner Mara zum Klettern in Rovinj , folglich fällt das gemeinsame Laufen heute aus. Lisa fliegt irgendwo über den Wolken herum. Ute ist zur Arbeit in der Steuerkanzlei. Mutter und Alfons sind weit weg. Nur ich kann und muss nirgendwo hin. Nicht einmal an meinen Arbeitsplatz.
Meine Familie, meine Freunde – alle sind beschäftigt. Hinzu kommt, dass sie sich für mich freuen, seit ich ihnen gesagt habe, dass ich mich wieder erinnere. Sie glauben, meine Welt und mein
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