Meine Seele weiß von dir
Leben sind damit in Ordnung, und ahnen nichts von dem Loch darin, das so tief ist wie die San-Andreas-Spalte. Wie auch? Sina-Mareen hatte sich nie jemandem wirklich anvertraut, mit niemandem geredet.
Und Sina? Sie hat denen, die noch keine Kenntnis hatten, endlich von der Schwangerschaft, der Fehlgeburt und den dadurch entstandenen Schwierigkeiten mit Leander erzählt. Ohne das genaue Ausmaß dieser Schwierigkeiten näher zu beschreiben.
Alfons reagierte still und nachdenklich. Ausgerechnet Alfons, der nie Vater wurde und den Sina-Mareen nicht zu schätzen wusste . Danach verzog er sich in seine Werkstatt und arbeitete an einer neuen Skulptur. Das hat mir meine Mutter erzählt .
Meine Mutter.
Als ich es ihr erzählte, holte sie tief Luft und gestand mir mit unsicherer Stimme, dass sie selbst auch ein Kind verloren hatte. Einen Jungen, der nach mir und vor Lisa geboren worden wäre. Sie ist erst darüber hinweggekommen, als sie mit Lisa schwanger wurde. „Er sollte Elias heißen“, sagte sie. „Manchmal denke ich noch an ihn.“ Und sie lachte ein trauriges, kleines Lachen. „Eigenartig. Oder nicht?“
Ja. Das Leben ist wirklich eine seltsame Sache.
Frau Hischer hingegen nickte zu dem, was ich erzählte, als würde ich lediglich eine Sache bestätigen, die sie schon seit geraumer Zeit wusste – was wahrscheinlich auch den Tatsachen entsprach.
Aber sie schien unsicher, als ich ihr sagte, dass nun alles wieder in Ordnung sei, zumindest mit meinem Erinnerungsvermögen. Und bei dem höflich distanzierten Verhältnis, das sie und Sina-Mareen zueinander gehabt hatten, wunderte mich das nicht. Ich umarmte ich sie, um das dünne Eis, das sich zwischen uns auszubreiten begann, zu brechen und fragte, ob wir auch weiterhin noch miteinander frühstücken könnten.
Da strahlte sie und nannte mich wieder „Kindchen“.
Ich seufze.
In der Enge des Schrankes hört es sich dumpf und verzweifelt an. Wie dem auch sei: Ich kann nicht bis ans Ende meiner Tage hier drinnen sitzen. Und wo ich gerade an Frau Hischer denke: Sie wird in ziemlich genau einer Stunde hier aufkreuzen! Also schiebe ich die opalfarbene Schwebetür zur Seite und klettere heraus.
Meine Laune wird schlagartig besser, denn ich habe eine Überraschung für sie, die ihr deutlich machen wird, wie stark ich mich verändert habe; aber vor allem, wie sehr ich sie mag und schätze.
An dem Montag, an dem ich meine Erinnerungen zurückerlangte, hatte ich etwas ganz und gar Ungehöriges getan. Etwas, das wohl nur mit meinem aufgewühlten Gemütszustand an diesem Tag erklärbar war: Ich hatte heimlich Frau Hischers Brieftasche aus ihrer Handtasche genommen.
Mir war nämlich klar geworden, dass ich weder wusste, wie sie mit Vornamen hieß, noch wann sie Geburtstag hatte. Leander hatte sie damals eingestellt, und ich habe nur wenig mit ihr gesprochen und mich kaum um ihre Anwesenheit gekümmert. Peinlich, aber wahr.
Ich sah, dass Frau Hischer auf den schönen Name Luzie hörte. Ihr Geburtsdatum war der 27.06.1958. Krebs, dachte ich mechanisch, denn ich fertigte auftragsgemäß dauernd mehr oder weniger originelle Schmuckstücke an, die ich mit Sternzeichen versehen musste, daher hatte ich jedes Tierkreiszeichen im Kopf.
In dem Ledermäppchen steckte auch ein Foto von Frau Hischer und vermutlich Brigitte, ihrer Lebensgefährtin. Ich betrachtete es.
Brigitte war eine mittelgroße, schlanke Frau mit langen, brünetten Haaren, hohen Wangenknochen und Rehaugen. Wie sie da so neben der fülligen Frau Hischer mit den runden Bäckchen posierte, erinnerten sie mich stark an Bambi und Klopfer. Arm in Arm standen sie vor einem See, strahlten in die Kamera und Herr Hischer saß grinsend zu ihren Füßen. Ich entsinne mich, dass ich dachte: Was für eine glückliche, kleine Familie, bevor ich das Mäppchen hastig und mit schlechtem Gewissen, als wäre ich eine Diebin, zurücksteckte.
Jedenfalls ist heute der siebenundzwanzigste Juni.
Und zur Abwechslung decke ich den Tisch, statt es Frau Hischer tun zu lassen. Mit allem, was dazugehört: Kerzen, einem Blumenstrauß in der Mitte und einer Erdbeertorte, die ich beim Konditor gekauft habe. Denn ich selbst kann zu meinem Bedauern nicht backen.
Ich stelle das Radio auf Frau Hischers Lieblingssender ein, entzünde die Dochte an den Kerzen und begutachte noch mein Werk, da steckt Frau Hischer den Schlüssel ins Schloss.
Ihre Augen werden groß und rund, als sie in die Küche kommt. Sie schlägt die Hände zusammen und
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