Meine Seele weiß von dir
ruft. „Ach, Kindchen! Das wäre nicht nötig gewesen!“ Doch ihr Hals und ihr Gesicht überziehen sich mit einem satten Rosa und ihre Augen glänzen vor Freude.
„Alles Gute zum Geburtstag, Frau Hischer!“ Ich umarme sie. „Ich will Sie nicht mit einem Ständchen verschrecken. Sie kennen ja meine furchtbare Singstimme zu genüge .“
Sie lacht und nickt und kost Herrn Hischer, der bellend um uns herumwuselt.
Ich schaue erwartungsvoll auf die Uhr und stelle das Radio lauter. Jetzt müsste es gleich so weit sein.
„ Scht ! Still!“, zische ich dem Cockerspaniel zu, der wider Erwarten verstummt.
Im Radio laufen jetzt die täglichen Geburtstagsgrüße. Und da, direkt an zweiter Stelle, ist meiner!
„Ein besonders herzlicher Gruß geht an Luzie Hischer aus Grahben, die heute ihren fünfzigsten Geburtstag feiert! Es ist Sina, die Ihnen alles Liebe und Gute wünscht. Und diesen musikalischen Gruß sendet.“
„Du kannst nicht immer siebzehn sein“, erklingt Chris Roberts‘ Stimme, und wir brechen in Gelächter aus.
Wir drehen die Musik leiser, setzen uns an den Tisch. Frau Hischer singt den ur alten Schlager mit, während sie Kuchen auf zwei Teller verteilt. Bevor wir essen, drücke ich ihr das Päckchen in die Hand, das ich für sie habe. Es ist in dunkelblaues Papier eingeschlagen, mit einem feinen Silberbändchen darum. Gespannt und ungeduldig sehe ich zu, wie sie es auswickelt. Dann hält sie die zierliche Brosche in ihren Händen und schaut mich ungläubig an.
Ich nicke bestätigend.
Luzie Hischer zwinkert heftig, als könnte mein Geschenk ein Trugbild sein. Es ist die erste Anstecknadel aus der Sappho- Kollektion: Zwei Veilchen, eines unbedeutend größer als das andere, schmiegen sich aneinander.
„Kindchen“, flüstert sie. Ihre Augen werden feucht. „Ich erkenne Sie nicht wieder. Sie sind ein völlig anderer Mensch geworden. Wirklich. Ein völlig anderer Mensch.“
„Ja. Das stimmt.“ Ich zögere, da ich nicht genau weiß, wie ich es sagen soll. „Glauben Sie, dass er es auch bemerkt?“
Ihre Gesichtszüge werden weich. Sie zieht mich noch einmal an sich. „Und ob!“, ruft sie. „Das glaube ich auf jeden Fall. Sie werden bestimmt bald von ihm hören.“
Es klingt wie eine tröstliche Prophezeiung.
Gegen elf bin ich wieder allein. Ich schwitze am Schreibtisch und plage mich mit der Buchhaltung ab, als ich die Klappe des Briefkastens scheppern höre. Reichlich spät, denke ich. Kurz darauf läutet es an der Tür.
Es ist ein neuer Postbote, ein junger Mann mit auffallend abstehenden Ohren, der mir leicht verlegen ein Einschreiben mit Rückschein hinhält.
„Guten Tag. Sind Sie Sina-Mareen Hohwacht?“
Mir werden die Knie weich, als ich den Absender des Einschreibens entziffere: Doktor Theophil Rupert, Rechtsanwalt und Notar.
Leanders Anwalt.
Ich nicke und er fragt, ob er meinen Ausweis sehen kann.
Ich zeige ihm die Ausweiskarte, kritzele beinahe unleserlich meinen Namen auf die Rückscheinkarte, die er vom Umschlag entfernt, bevor er ihn mir endlich aushändigt.
„Die andere Post habe ich schon eingeworfen“, sagt er entschuldigend und deutet auf den Briefkasten. „Tschüss! Und einen schönen Tag noch.“
Er schwingt sich auf sein Rad und radelt quietschend davon.
Ich schließe die Tür und lehne mich mit dem Rücken dagegen.
Der Umschlag wurde gestern abgeschickt.
Er ist dünn. Leicht. Beinahe gewichtslos. Und er brennt und juckt in meinen Fingern, als wäre er mit Juckpulver bestäubt.
Habe ich schon einmal solche Furcht davor gehabt, einen Brief zu öffnen?
Im Schrank ist es wie immer. Still und dämmrig. Ich kann mein Herz spüren. Es schlägt mir bis zum Hals. Ich bin kurzatmig in der leicht stickigen Luft, die noch immer ein Hauch von Leanders Kleidung aufweist. Aber nur hier bringe ich es fertig, den Umschlag zu öffnen.
Es ist eines der Kuverts, die auf der Rückseite mit einem selbstklebenden Streifen verschlossen werden. Ich löse den Umschlag an einer Ecke und ziehe ihn dann auf, statt ihn zu zerfetzen, wie es mich eigentlich verlangt. Aber so dauert das Öffnen länger, schiebt sich das Lesen der Nachricht hinaus - und die mögliche Konsequenz.
Ich entnehme ihm ein einzelnes Blatt Papier, das den eindrucksvollen Briefkopf Doktor Theophil Ruperts und das Datum von Mittwoch trägt. Es sind nur wenige Zeilen. Ich muss die Tür aufschieben, um sie entziffern zu können. Dann lese ich das Schreiben zweimal - und breche in Tränen aus.
Sehr
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