Meine Seele weiß von dir
Stunde wieder abzuholen, damit er mich zum Bahnhof fahren kann - was er mir zusichert.
Anschließend schleppe ich meine Reisetasche die Stufen hinauf und läute. Diesmal öffnet mir eine junge Frau mit sehr kurzen, pink gefärbten Haaren, die mich zu Doktor Yvonne bringt.
Wieder muss ich an Marg a ret Rutherford denken, als Doktor Yvonne mich mit einem freundlichen Lächeln und einem festen Händedruck begrüßt. „Sina-Mareen! Sie sehen gut aus! Wirklich gut.“
„Ich fühle mich auch besser. Und bitte, nennen Sie mich Sina. Einfach nur Sina. - Sina-Mareen, das bin ich einfach nicht mehr.“
Sie gibt ein neutrales Geräusch von sich und geht nicht näher darauf ein.
Wir setzen uns. Ich erzähle ihr, dass ich wieder angefangen habe zu arbeiten und sogar dabei bin, eine neue Kollektion zu erstellen. Ich verschweige nicht, dass mich meine Gefühle, die ich Leander entgegenbringe, dazu inspiriert haben.
„Es ist eigenartig“, versuche ich Doktor Yvonne zu erklären, „aber im Krankenhaus hatte ich eine gewisse Furcht, mit Leander nach Hause zu gehen. Er war ein völlig Fremder für mich“ – hier stutze ich kurz, bevor ich weiterspreche – „und jetzt bin ich regelrecht in ihn verliebt.“ Ich muss lachen. „Auch das ist eigenartig, Doktor Yvonne, oder? Sich ein zweites Mal in den eigenen Mann zu verlieben. Aber es hat mich immerhin aus meinem Schrank heraus und zurück an meinen Werktisch geführt.“
Ich suche in meiner Handtasche nach der Skizze des Freya-Armreifs und zeige sie meiner Therapeutin, wobei ich ihr die Symbolik des Schmuckstücks erkläre.
„Oh Sina! Das ist ein ausgesprochen schönes Stück!“, sagt sie aufrichtig. Sie erläutert, dass meine Kreativität nicht im episodischen Gedächtnis verarbeitet wird, sondern auf der gleichen Ebene der Gefühle, die ich für Leander empfinde. Was nichts anderes bedeutet als dass, wenn ich an ihn denke oder er in meiner Nähe ist, die kreative Persönlichkeit in mir erwacht.
„Er ist das richtige Stichwort, das die Datei Ihrer künstlerischen Erinnerungen aus den Tiefen I hres Gedächtnisspeichers abruft“, schließt sie.
Oder, denke ich, weniger technisch ausgedrückt: Meine Kreativität ist das schlafende Dornröschen. Und Leander ist der Prinz, der es wach küsst. Meine Muse.
„Ich möchte Ihnen gerne noch etwas zeigen, Doktor Yvonne. Es geht ...“, ich stolpere mitten im Satz, räuspere mich und fahre fort. „Ach hier, lesen Sie selbst.“
Ich ziehe das Notizbuch aus meiner Handtasche. Mit Hilfe des roten Bändchens schlage ich die richtige Seite auf und gebe ihr das Gedicht zu lesen.
Bedauern
Ein Funke des Lebens
hat meine Welt
für einen Augenblick erhellt
Doch sein Leuchten war vergebens
noch bevor sein Dasein begonnen
hab´ ich es ihm fortgenommen
Ach, Funke des Lebens
hätt ich dich doch gekannt
und bei einem Namen genannt
Mein Kind, du lässt mich traurig zurück
weil du bei den Sternen bist
Sie wird kreidebleich. Die dunklen Augen in ihrem Gesicht glitzern wie regennasser Asphalt. „Woher wissen Sie von dem Baby , Sina?“
„Von Leander.“
„Das hätte er nicht tun dürfen!“ Zum ersten Mal hört sie sich verärgert an.
„Es ist ihm herausgerutscht. Er hatte nicht vor, mir von de r Abtreibung zu erzählen.“
„Von der Abtreibung“, wiederholt sie. „Hm.“
„Danach war er ziemlich mit den Nerven fertig“, nehme ich ihn weiter in Schutz.
Doktor Yvonne fokussiert mich. „Sina. Was ich Ihnen jetzt sage, war so nicht beabsichtigt. Doch ich sehe mich durch Leanders Fauxpas veranlasst, einiges richtigzustellen.“
Sie seufzt, bevor sie fortfährt. „Ich hoffe nicht, dass unser Vertrauensverhältnis darunter leidet – aber ich habe Ihnen bei unserem ersten Termin nicht ganz die Wahrheit gesagt, als Sie mich fragten, ob wir uns kennen. Aus rein therapeutischen Gründen, versteht sich.“
„Wie meinen Sie das?“
„Nun, ich habe behauptet, wir würden uns nur flüchtig über Leander kennen. Das ist aber nicht richtig. Sie waren im März und April insgesamt vier Mal zu Gesprächen in meiner Praxis. Als Patientin. Allein. Ihren Termin im Mai haben Sie dann nicht mehr einhalten können.“
„Was?“ Ich bin fassungslos.
„Ja“, sagt sie knapp. „Ich wollte es Ihnen nicht sagen, weil Sie mich unweigerlich nach dem Grund gefragt hätten und ich der Ansicht war, und es im Übrigen noch bin, dass es nicht der richtige Zeitpunkt gewesen wäre, über den Verlust Ihres Kindes zu sprechen. Ich
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