Meine Seele weiß von dir
wollte, dass Sie sich von allein daran erinnern. Vor allem ohne das Risiko eines möglichen Schocks.“
Jetzt bin ich es, die schweigt.
„Was Ihre Trauerarbeit wegen des Ungeborenen anbelangt, Sina“, sie deutet auf das Gedicht, „so ist es gut und richtig, sich damit auseinanderzusetzen. Sie haben das schon einmal getan. Damals, bei unseren ersten Gesprächen. Denn deswegen waren Sie bei mir. Sie haben in ganz ähnlicher Weise, nein, in beinahe erschreckend gleicher Weise, agiert. Was ich, selbst unter den gegebenen Umständen, für ein positives Zeichen im Hinblick auf I hr Erinnerungsvermögen halte.“
„Was meinen ...“ Sie bringt mich mit einer Handbewegung zum Schweigen, geht zu ihrem überladenen Schreibtisch und nimmt etwas.
Es ist ein antik anmutendes, in dunkles Leder gebundenes Notizbuch, der Deckel ist mit silbernen Ornamenten geprägt. Es hat einen Magnetverschluss. Schlagartig fällt mir die Lücke in der Bücherreihe ein, die in dem Regal in meinem Atelier steht. Deswegen steht mit Sicherheit fest , dass es mein Notizbuch ist, das ich hier vergessen haben muss.
Kein rotes, sondern ein silbergraues Bändchen kennzeichnet eine Seite, die Doktor Yvonne nun aufschlägt und mir ein Gedicht zu lesen gibt, das mich fassungslos aufstöhnen lässt. „Aber ... aber das würde bedeuten ...“
Sie nickt.
Ich lese die Zeilen noch einmal und eine Gänsehaut überzieht jeden Zentimeter meiner Haut.
Fehlgeboren
Ein Funke des Lebens
hat meine Welt
für einen Augenblick erhellt
Doch das Hoffen war vergebens
noch bevor sein Dasein begonnen
wurde er mir fortgenommen
Kleiner Funke des Lebens
ich hätte dich so gern gekannt
und bei deinem Namen genannt
Mein Kind, du lässt mich traurig zurück
Auch wenn du bei den Sternen bist
Unsere Blicke begegne n sich.
„Sie haben keinen Schwangerschaftsabbruch vornehmen lassen, Sina. Sie haben ihr Kind im dritten Monat verloren. Sie hatten eine Fehlgeburt erlitten. Und mit „ erlitten “ meine ich erlitten. Wortwörtlich.“
Ich habe ein Gefühl, als ob mein Magen ein Klumpen Eis ist. „Aber das ist doch völlig absurd. Das kann nicht sein! Warum hätte ich Leander dann erzählen sollen, dass ich eine Abtreibung habe machen lassen? “
Sie verzieht bedauernd den Mund. „Da rüber kann ich nichts sagen. Ü ber Ihre Gründe hierfür haben Sie nie mit mir gesprochen.“
Kapitel 17
Draußen, hinter den Zugfenstern, taucht ein Landschaftsbild nach dem anderen auf und verschwindet wieder, nur um durch das n ächste ersetzt zu werden.
Grün, Seen, Landwirtschaft, Industrie, Straßen, Autos, Dörfer, Städte. Immer wieder und wieder , in wechselnder Folge, bis die Anzahl der Städte zunimmt, sie größer werden und die Natur schließlich so gut wie ganz verschwindet. Nur ab und zu tauchen noch Wäldchen oder Weiden auf, als hätte jemand vergessen, sie fortzunehmen.
Auf den Bahnhöfen, die sich auf beinahe unheimliche Weise zu gleichen scheinen, warten Menschen. Sie steigen ein, sie steigen aus. Sie lachen oder weinen. Manche Gesichter sind gleichgültig. Andere müde. Die Leute drängen, sie schieben und manchmal rennen sie. Sie reden. Sie schweigen. Sie schauen.
Wie ich.
Und doch habe ich nicht mehr Anteil an alldem, als würde ich mir eine Dia-Show ansehen.
Ich versuche einige Male vergeblich Leander zu erreichen und vermute, dass er sich die meiste Zeit über im Tonstudio aufhält. Dort wird er sicherlich nicht sein Handy einschalten.
Ein- oder zweimal spiele ich mit dem Gedanken, ihm eine Nachricht im Hotel zu hinterlassen. Letztlich entscheide ich mich dagegen.
Mit heißer Stirn und eiskalten Händen fiebere ich unserer Begegnung entgegen, will mit ihm über Dinge sprechen , die ich selbst nicht begreife und nachvollziehen kann und über die ich nichts weiß.
Aber ich habe das dringende Verlangen, ihm zu sagen, dass ich ihn belogen habe. Und dass ich nicht die geringste Ahnung habe, aus welchem Grund. Ich muss richtigstellen, dass ich unser Kind verloren habe und keinen Anteil daran hatte, sondern dass es einfach geschehen ist. Wie solche tragischen Dinge eben manchmal vorkommen, ohne dass wir es ändern könnten.
Gleich am Montag werde ich einen Termin mit meinem Frauenarzt vereinbaren, den ich doch sicher habe.
Es ist bereits Abend, als ich in Berlin ankomme. Ganz langsam verdunkelt sich der Himmel. Das, was ich von der Hauptstadt sehe, finde ich schmutzig, hässlich, stressig und vor allem sehr, sehr laut.
Die Stadt
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