Meine Seele weiß von dir
hätte ich sicher Verständnis und es ginge mir ja offenbar nicht schlecht und sie würde mir eine Ansichtskarte aus Bad Reichenhall schicken.
…
Viele Küsse, Mutter
P.S. Alfons lässt grüßen!
- Wer immer Alfons auch ist, denke ich und bekomme ein schlechtes Gewissen. Natürlich hat meine Mutter recht. Aber ich bin so mit Leander, mir und unserem Leben beschäftigt, dass im Augenblick für nichts anderes Raum ist.
Ich liebe Leander, so viel steht fest. Ich liebe ihn mehr, als ich sagen kann – aber ich vermag so vieles noch nicht richtig einzuordnen. Vor allem, warum Leander sich mir gegenüber so unzugänglich verhält. Obwohl ich zu spüren glaube, dass er das im Grunde gar nicht will, weicht er mir aus. Dann diese Sache mit der Abtreibung!
Es stimmt, was Leander sagt: Wir müssen unbedingt miteinander reden.
Und zwar Klartext.
Ich sitze in meinem Atelier an dem immer noch verschlossenen Schreibtisch. Vor mir liegt ein aufgeschlagenes Notizbuch. Es ist in rotes Leder gebunden, der Deckel ist mit silbernen Ornamenten geprägt und es hat einen Magnetverschluss. Es macht den Eindruck eines Gebetbuchs, das schon seit vielen Jahren in Gebrauch ist und aus einer Zeit stammt, in der das kunstvolle Verzieren solcher Gegenstände noch einen Wert besaß.
Innen ist es mit einem roten Lesebändchen und hochwertigem, cremefarbenem Papier versehen. Die hauchfeinen Linien auf den Seiten sind mit meiner Handschrift bedeckt – hier schreibe ich meine Gedichte hinein.
Es stehen noch mehrere ähnliche Notizbücher in einem Regal hinter mir, obwohl eine Lücke zwischen ihnen darauf hindeuten könnte, dass eines fehlt.
Ich schreibe und wische die Tränen, die auf das Papier tropfen, nicht weg. Als Tinte und Tränen getrocknet sind, markiere ich die Seite mit dem Lesebändchen, schließe das Buch und stecke es in meine Handtasche.
Bis elf Uhr ziseliere ich einen breiten Kupferarmreif und arbeite mithilfe meiner Werkzeuge - Hammer, Punzen, Meißel, Sichel und Feile - Ornamente heraus.
Ich habe eine neue Linie für meine Kollektion entworfen, die ich „Freyas Töchter“ nenne und die das herzförmige Lindenblatt zum Thema hat.
Da Kupfer das Metall der Göttin ist, habe ich den Reif aus dem hellroten Metall gefertigt, das im Laufe der Zeit an der Luft diese edle rotbraune Patina annehmen wird.
Die Menschen, die Freya verehrten, haben ihr den Smaragd gewidmet und ihr als Farbe alle Arten von Grün zugeordnet. Deswegen habe ich mich für diesen Edelstein entschieden. Ich habe ihn in Form eines Lindenblattes geschliffen und werde das Blatt mittig auf den Armreif setzen.
Auf meiner Skizze, an der ich beinahe die ganze Nacht gesessen habe, sieht das Schmuckstück antik und sehr edel aus. Die Idee dazu kam mir nach Leanders und meiner Begegnung bei der Linde. Er muss wohl eine Art Muse für mich sein.
Ich strecke mich. Meine Schultern sind ein wenig verspannt. Außerdem fühle ich mich verschwitzt. Trotzdem würde ich gern weitermachen. Aber als ich auf die Uhr sehe, stelle ich zu meinem Bedauern fest, dass mir gerade noch genug Zeit für eine Dusche bleibt, bevor ich zu Doktor Yvonne aufbrechen muss.
Für einen Augenblick gerate ich in Versuchung, den Termin abzusagen und einfach weiterzuarbeiten – doch dann siegt die Vernunft. Außerdem fällt mir siedend heiß ein, dass ich nach dem Termin in den Zug nach Berlin steigen werde! Die Fahrverbindung sowie das Online-Ticket, das ich ausgedruckt habe, stecken schon in meiner Handtasche. Einfache Fahrt. Nur hin. Zu ihm.
Bei dem Gedanken an Leanders überraschtes Gesicht, wenn ich plötzlich vor ihm stehe, anstatt im Schrank zu sitzen, kehrt meine gute Laune zurück. Wenn wir erst vernünftig miteinander reden, wird alles gut. Das glaube ich wirklich. Ich packe meine Skizzenblätter ein und bin gespannt, was Leander zu der neuen Kollektion sagen wird!
Ich dusche, ziehe mich um, packe eine Tasche – es ist dieselbe, die Leander mir ins Krankenhaus brachte – und stelle reichlich Trockenfutter und Wasser für Rainer Maria hin, damit er bis Freitagmorgen nicht hungern muss.
Danach rufe ich mir ein Taxi, denn ich möchte das Auto nicht tagelang am Bahnhof stehen lassen.
Ich schreibe eine Notiz für Frau Hischer. Den Zettel lege ich auf den Küchentisch, damit sie nicht gleich in Panik verfällt, wenn ich nicht zuhause bin.
Kapitel 16
Das Taxi hält vor der Villa, die im Schatten der Magnolie zu schlummern scheint. Ich bitte den Fahrer, mich in einer
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