Meine Seele weiß von dir
herumzureden, und deute auf das gelbe Haus. „Warum tust du das?“
Er seufzt wie ein ertappter Sünder. „Die Sache ist die: Cornelia mag keine Marmelade, hat sie nie gemocht. Ich übrigens auch nicht. Keine Kirsch-, Aprikosen- oder Himbeermarmelade. Und auch keine Erdbeerkonfitüre. Weil sich Lisa aber jedes Jahr so viel Mühe mit dem Einkochen macht, geben wir sie Frau Hinz. Die isst gerne süße Sachen. Und ihr Kleiner, der Leon, auch. Und weil Lisa den Korb mitnehmen möchte, bringe ich die Gläser meistens sofort rüber und sage ihr, ich hätte sie schon in den Vorratskeller gebracht.“
Ich bin fassungslos. Habe ich schon einmal eine ve rrücktere Geschichte gehör t? Eine Tochter, die ihre Mutter glauben macht, dass sie Jahr für Jahr Marmelade kocht, und umgekehrt eine Mutter, die sich alljährlich über genau diese Marmelade freut, obwohl sie keine mag, was ihre Töchter offenbar nicht mal ahnen.
„Warum sagt ihr Lisa nicht einfach die Wahrheit?“
Er zuckt hilflos mit den Schultern. „Beim ersten Mal haben wir es nicht übers Herz gebracht. Sie war so stolz auf ihren Einfall, und all die Zeit und Arbeit! Wir dachten auch nicht, dass sie es noch einmal wiederholen würde. Und danach, na ja, plötzlich war wieder Muttertag und sie stand mit neuen Gläsern vor der Tür. Spätestens da konnten wir es einfach nicht mehr tun, verstehst du? Außerdem freut Cornelia sich wirklich darüber. Es zeigt ihr, wie wichtig sie ihrer Tochter ist. Was zählt, ist die Geste.“
Ich fahre zusammen, weil er meinen Gedanken laut ausspricht. Um Verständnis heischend steht er da: „Das Geben und Nehmen, die Freude und der Wille, den anderen glücklich zu machen. Und genau das will Lisa tun.“ Er verstummt, spielt verlegen mit dem Korb.
Ich lächele ein leises Lächeln und sage: „Ach, Alfons.“ Es schwingt so viel unterdrückte Heiterkeit in meiner Stimme, dass er den Korb zur Seite stellt und mich fragt, ob ich in Ordnung bin.
„Ja. Ja, sicher. Es ist nur ...“ Er schaut mich aus großen Augen an und ich nuschle: „Ich werde dir irgendwann mal alles erklären, vielleicht nächstes Jahr. Am Muttertag. Aber nicht jetzt, nicht heute.“
Nacheinander gehen wir hinein. Drinnen bleibe ich abrupt stehen. Wir sind offenbar in Alfons Arbeitsraum. Überall stehen fertige und halbfertige Skulpturen herum. Eine von ihnen bricht mir das Herz.
Sie ist aus fleckigem Stahl, circa einen Meter hoch und von kindlicher Anmut. Ein filigranes Mädchen oder eine junge Frau, barfuß, in ein Hemdchen gekleidet, ohne Haare, ohne Gesicht. Ihr Kopf ist ein Flickwerk aus unterschiedlich großen Metallteilen, die Alfons zusammengesetzt und verschweißt hat.
Die Nähte stechen blank wie schmerzhafte Narben hervor und da, wo die Augen sein sollten, sind Flecken. Unergründliche Seen wie aus Quecksilber, aus denen Schlieren zu laufen scheinen und silbrige Spuren hinterlassen: erstarrte Tränen.
In der linken Hand hält sie einen Spiegel, halb erhoben, sodass sie sich darin betrachten könnte, wenn sie die Spiegelfläche nicht mit ihrer Rechten zudecken würde.
Ihr verzogener Mund aber, der in den Stahl hineingeschnitten wurde, scheint ein hoffnungsvolles Lächeln anzudeuten.
Alfons ist doch ein Künstler.
Ich berühre die Plastik und frage ihn, wie diese Arbeit heißt.
Er tritt an meine Seite, ich kann die Wärme spüren, die von seinem Körper ausgeht. „Die Kopfzerbrochene“, antwortet er. „Warum? Gefällt sie dir?“
„Ja. Ja, ich finde sie sehr ergreifend.“ Meine Finger tasten über den Narbenkopf. Er fühlt sich kalt, uneben und hart an. Darin muss alles schwarz und leer sein.
Erstaunen liegt in Alfons „Oh!“, das er hervorstößt. Aber vielleicht habe ich mich auch getäuscht, denn er sieht glücklich aus, einfach nur glücklich.
Und mir, die ich selbst in einem Kunsthandwerk arbeite, ist bewusst, wie gut es sich anfühlt, wenn einem Künstler ein Lob über eines seiner Werke ausgesprochen wird.
„ Siehst du“, sagt Alfons, „in letzter Zeit musste ich oft an dich denken. Wie es dir geht, was du empfindest . Ob du Angst hast, dich allein fühlst, sich deine Erinnerungen wieder zusammenfügen ... und so ist sie entstanden.“ Er wirkt verlegen. „Denn auch dein Kopf ist zerbrochen und muss wieder zusammengefügt werden, Stück für Stück. Im übertragenen Sinne. Das wird Narben hinterlassen und noch erkennst du dich nicht wieder. Aber die Narben werden verblassen, heilen, und eines Tages wirst du die Frau im
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