Meine Seele weiß von dir
Fotoalben herbei, die sie mit leuchtenden Augen auf den Tisch legt. Sie streichelt darüber. „Was für wunderbare Zeiten das waren“, sagt sie. Es klingt wehmütig.
Sie, Lisa und ich, rücken zusammen und schauen uns die Fotos an. Es sind Aufnahmen, wie sie in jedem Familienalbum zu finden sind: Weihnachtsbescherungen, Schlittenfahrten, Urlaubsbilder, Einschulungen, Kindergeburtstage, Schulfotos und dazu die Anekdoten, die Mutter und Lisa erzählen und die allesamt mit „Weißt du noch ...“ beginnen.
Alfons, der mit einer Kanne Kaffee und Tassen zurückgekommen ist, und ich sitzen stumm daneben. Wir lauschen den kurzen, witzigen Geschichten und fallen an den richtigen Stellen in Lisas und Mutters Lachen ein.
Seine dunkelblauen Augen verweilen oft auf meiner Mutter. Ich muss an das Meer denken und den Mond, der das Wasser unwiderstehlich anzieht: Alfons Augen sind wie das Meer und meine Mutter ist sein Mond. Eine schöne Metapher für ein Gedicht, denke ich. Du bist mein Mond. Meine Mondin.
Einmal, als Lisa sagt: „Weißt du noch?“, und eine Aufnahme von mir in einem löchrigen, rosa Nachthemd herüberschiebt, geschieht es wieder: Ich erinnere mich! Einfach so. Äußerst langsam nicke ich. „Ja“, hauche ich. „An diesem Tag habe ich armes Kind gespielt. Das war an irgendeinem Geburtstag.“
„Dein fünfter“, bestätigt unsere Mutter aufgeregt. „Du hast das Nachthemd geschenkt bekommen. Von Oma.“
„Ich habe es mit ins Kinderzimmer genommen, eine Schere geholt und lauter Löcher hineingeschnitten. Danach habe ich es angezogen, bin ins Wohnzimmer gekommen und habe gesagt: „Mama, guck mal. Ich spiele armes Mädchen.“
Mutter und Lisa fallen sich um den Hals, als hätte ich eben eine Goldmedaille bei den Olympischen Spielen gewonnen oder einen Weltrekord aufgestellt.
Alfons schlägt mir aufmunternd auf die Schultern, zieht die Hand aber rasch wieder zurück, als hätte er etwas Verbotenes getan. Ich schaue auf das Foto – das Indiz, das meine Erinnerung bestätigt – und rufe: „Aber ich habe keine Ahnung, warum ich das getan habe.“
„Das macht nichts!“ Aufgekratzt greift Mutter nach meiner Hand und drückt sie fest. „Denn, siehst du, das ist etwas, was du nie gewusst hast.“
Wir lachen. Meine Zuversicht, dass ich mich irgendwann wieder an alles erinnere, ist riesengroß – meine Hoffnung, dass ich endlich meine Leander-Erinnerungen zurückbekomme, sogar unermesslich.
Wir wollen in Kürze aufbrechen, aber im Augenblick sitze ich allein im Wintergarten. Lisa ist noch einmal auf der Gästetoilette verschwunden und Mutter sortiert im Wohnzimmer einige Fotos in einen Umschlag, damit ich sie mir zuhause in aller Ruhe ansehen kann. „Vielleicht kommt noch mehr hoch!“, ruft sie und ich höre sie bis zu mir rascheln.
Ich gähne. Eine Brise weht herein und ich beschließe, dass ein wenig frische Luft und ein kurzer Spaziergang durch den Garten nicht schaden können.
Die Nachmittagssonne steht bereits tief am Horizont und wir haben noch gut drei Stunden Fahrzeit vor uns. Hoffentlich kommt Lisa bald. Ich will gerade wieder hineingehen, da sehe ich Alfons verstohlen über die Straße eilen – in der Hand trägt er Lisas Marmeladenkorb.
Er schaut flüchtig zum Bungalow zurück, sieht mich aber nicht, dann geht er zu dem hellgelben Haus mit dem Gartenteich und betätigt den Bronzeklopfer.
Eine junge Frau, die einen Jungen auf dem Arm trägt, öffnet und strahlt ihn an. Ich kann nicht hören, was sie sagen, aber die Frau lacht, setzt den Jungen ab und nimmt die fünf Gläser Erdbeermarmelade in Empfang, die Alfons ihr nacheinander reicht. Zum Abschied zerzaust er dem Jungen das Haar und kommt zurück.
Ärger steigt in mir auf, heiß, zäh und brodelnd wie kochende Marmelade. Lisas selbstgemachte Erdbeerkonfitüre – weggegeben, einfach so! Der Gedanke, dass sie die Beeren weder gepflückt, noch verlesen oder gar eingekocht hat, drängt sich mir auf; aber er schwächt meinen Zorn nicht ab. Was zählt, ist die Geste! Unsere Mutter freut sich über die Marmelade und nur deshalb bringt Lisa ihr jedes Jahr welche. Wie kommt Alfons eigentlich dazu, sie einfach zu verschenken? !
Ich eile ihm nach. Bevor er im Anbau verschwinden kann, entdeckt er mich. „Sina-Mareen.“
„Sina.“
„Sina.“ Schuldbewusst schaut er auf den leeren Korb und räuspert sich. „Bist du schon lange hier draußen?”
„Lange genug jedenfalls!“
„Oh.“
Ich beschließe, nicht lange um die Sache
Weitere Kostenlose Bücher