Meine Väter
Alles verwischt. Der verschwiegene GroÃvater: vergessen. Alles löst sich auf.
Ich lebte ausgelassen elternlos. Nicht einmal meine Mutter wollte ich sehen, und ich verletzte mit meinem Rückzug die Menschen, die mir nahe waren.
Ich war mit mir beschäftigt, meinem intellektuellen und privaten Weg, glaubte ich zumindest.
Wer war ich, wer würde ich sein? Was würde ich aus mir machen?
Höchste Zeit für solche Gedanken.
Aber im richtigen Leben kommt es selten zu solch tiefen Verwandlungen. Denn was tat ich in Wirklichkeit?
Ich studierte ein wenig und trieb mich herum.
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*â*â*
3. Das geheime Dokument
Verschwommene Kopien, brüchige DIN-A 4-Bögen.
Die Lebenserinnerungen Ferdinand Bronners, seine Hinterlassenschaft, geschrieben in der Nachkriegszeit, sechzig Jahre nach seiner Taufe und nach Jahrzehnten eskalierenden Antisemitismus, nach dem Zusammenbruch der Monarchie, dem nationalsozialistischen Judenmord. Eine Veröffentlichung strebte er nicht an.
Gespannt greife ich nach dem ersten Blatt und fange an zu lesen.
Auf fünfhundertzweiundvierzig Seiten, geschrieben auf der ersten seriellen Schreibmaschine, einer holprigen Remington, die später aus dem Nachlaà meines Vaters auf mich überging, hat Ferdinand Bronner zwischen 1944 und 1948, dem Jahr seines Todes, seine Biographie niedergeschrieben. Sie beginnt mit der Geburt 1867 und endet nach dem Ersten Weltkrieg. Er füllte die Seiten des dickleibigen Blätterturms mit springenden Buchstaben papiersparend bis zum Rand und lieà auch oben und unten kaum Rand.
Ich stelle mir vor, wie er in der kleinen Eineinhalbzimmerwohnung im Altersheim in Goisern dasitzt, über den einfachen Tisch gebeugt, die Maschine daraufhebt, rechts die Mappe für das Manuskript hinlegt, links das Papier und das Kohlepapier. Wie er zwei Bögen des Papiers einspannt, das Kohlepapier dazwischen, und Buchstabeâfür Buchstabe mit Durchschlag tippt, sorgsam formulierend, um sich aus seinem öden Privatiersdasein ins Leben hineinzuschreiben.
Ein geheimes Dokument, und als solches war es wohl
auch verfaÃt worden. Seine Tagebücher sind verschwunden. Hat einer aus der Familie gründliche Arbeit geleistet und alles vernichtet?
Ferdinand Bronner nannte seine Aufzeichnungen Nur Wahrheit! Blätter der Erinnerung : Er hängte die weiÃe Flagge der Wahrheit aus, um zu verkünden, er lüge nie. Das macht mich miÃtrauisch.
Ich halte schon am Ende des Prologs inne, der mit der Zeile beginnt: »Ich wurde am 15. Oktober 1867 in dem Städtchen Auschwitz (OÅwiÄcim) geboren.« Am Ende der knappen Einführung steht der Satz über »traurige Bedingungen«, die der Ort Auschwitz später erfuhr: »Es wurde der Sitz eines der entsetzlichsten deutschen Konzentrationslager, in dem alljährlich Hundertausende meist unschuldiger Menschenkinder aus den nichtigsten und oft fluchwürdigsten Gründen dem nationalsozialistischen Moloch zum Opfer gebracht wurden. Hier wurde ich also geboren.«
Meist unschuldige Menschenkinder, oft fluchwürdigste Gründe? Menschenkinder statt Juden?
Nichts als eine riesige, von gewählt schönen Worten gerahmte Lücke? Dr. Bronners gesammeltes Schweigen?
Sie gesteht, sie mag diesen Mann nicht, fühlt sich düpiert. Es dauert eine Weile, bis sie begreift, wie verzweifelt dieser Mann nach seinem Platz in der deutschen Kultur suchte.
Die ersten Blätter lege ich beiseite, ratlos. Jetzt verstehe ich Ellidas spöttische Bemerkung. Es ist, als träfe ich auf einen Mann, der sagt: Schaun'S mich nur an, aber wenn'S meinen, ich sei's: ich bin's nicht.
Das reizt sie. Fordert sie auf zur Detektivarbeit, die das Geheimnis seiner Person entschleiern will.
Also noch mal von vorn.
Jetzt lese ich anders. DurchstoÃe die glatte Oberfläche der Sprache. Unerwartete Teilnahme entsteht.
Wahr und wahrhaftig, es war möglich, in OÅwiÄcim, dem später verfluchten Auschwitz geboren zu werden: am 15. Oktober 1867, an einem kalten winterlichen Tag um acht Uhr morgens, kam dort mein GroÃvater zur Welt, dessen genauer Name wie der seines Vaters im Unklaren blieb. Unklar seine Herkunft. OÅwiÄcim gehörte damals zur Donaumonarchie, wenn auch am äuÃeren Rand gelegen.
Sein Vater, lese ich in seinen Erinnerungen, soll von ungarischen Schwaben aus Dominikovice abstammen, die irgendwann ins westliche Galizien ausgewandert seien, eine
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