Meine Väter
sprachen vom allmählichen Verfall der biologischen und geistigen Grundlagen des Volkes durch die »slawische Gefahr«, von »Rassenhygiene«, Euthanasie und der drohenden Verschlechterung der Erbqualitäten.
Auch hier war der Boden heiÃ. Ferdinand muÃte nicht nur an die hundert Hefte nach Hause zum Korrigieren nehmen, sondern auch eine respektlose Schülerschaft aushalten und kündigte nach einem Monat.
In Wien eine ständige Tätigkeit zu finden schien aussichtslos, so bewarb er sich bei Provinzanstalten und erhielt schlieÃlich eine Stelle an der Staatsrealschule in Jä
gerndorf (Kvnor) in Ãsterreichisch-Schlesien, seiner Heimatgegend. Nun war die materielle Situation der Familie gesichert.
1896 sollte er das geliebte Wien verlassen, und er überlegte, ob das von Vorteil war. In der Zeitung las er, daà der Abgeordnete von Pacher im Landtag zum zweiten Mal den Antrag gestellt hatte, all jenen, die nachweislich von jüdischen Vorfahren abstammten, das Bürgerrecht abzuerkennen, und Pfarrer Deckert bezichtigte die Juden gar des Ritualmordes. Das Ganze wurde immer widerwärtiger.
Da kam es ihm gerade recht, daà er sich als Neuernannter noch im Unterrichtsministerium vorzustellen hatte, wobei Seine Exzellenz, der Unterrichtsminister, wünschte, ihn persönlich zu empfangen. Es gab nur eine Schwierigkeit: Der Minister hatte für dienstliches Erscheinen Uniformzwang angeordnet, doch Ferdinand besaà keine Uniform und auch kein Geld, was er dem Präsidialchef unverhohlen erklärte. Der jedoch antwortete schnippisch, er wisse doch wohl die Auszeichnung zu schätzen, die im Wunsch Seiner Exzellenz liege, und eine Uniform sei nun einmal vorgeschrieben. Ferdinand bestellte also notgedrungen ein Dienstkleid, bekam es in kürzester Frist und wurde sofort vorgelassen.
Er betrat das Unterrichtsministerium, einen riesigen, weiÃglänzenden Palast, meldete sich beim Portier, und bald darauf trat ein Sekretär des Präsidialchefs auf ihn zu und forderte ihn auf, mitzukommen. Er öffnete einige Türen, und Ferdinand folgte ihm. SchlieÃlich stand er in einem Salon mit Stuck an den Wänden.
Minister Gautsch empfing ihn mit äuÃerster Liebenswürdigkeit. Ferdinand nahm Platz. Der Minister war dick, sein Gesicht war breit und rot, der Seitenscheitel tief ge
zogen, die Brust schmückten jede Menge Orden, die Manschettenknöpfe glänzten zu sehr. Er beugte sich vor, daà sein Bauch an die Schreibtischkante stieà und sagte, es freut mich sehr, Bronner, Sie kennenzulernen. Wir haben Ihre Unterrichtsmethoden geprüft und generell für ausgezeichnet befunden.
Er sprach in vertraulichem Ton von Schwierigkeiten, die sich an den österreichischen Lehranstalten mit den Professoren ergäben. Es mangele, sagte der Minister, nicht an gelegentlichen Versuchen, »das Gefühl einer gewissen Volksverbundenheit mit der untrennbaren Zugehörigkeit zu einem Staatsganzen zu verwechseln. Doch kann man wohl von einem österreichischen Staatsbeamten erwarten, daà er sich immer und an jedem Orte seiner Pflicht als Ãsterreicher bewuÃt bleibt.«
Er blickte auf seine Notizen und fuhr fort: »Vor allem ein Lehrer der deutschen Sprache, für den die Versuchung vielleicht sehr groà ist, darf das nie vergessen. Hierin hat Ihr Vorgänger wiederholt verstoÃen.« Jetzt hatte seine Stimme etwas Drohendes bekommen.
Eilfertig versicherte ihn Ferdinand seiner Loyalität. Er würde alles tun, was notwendig sei.
Sie kann es sich nur schwer vorstellen, daà dieser willensstarke Mann die Selbstverleugnung so weit treibt, seine Präsenz zu schmälern, als existiere er als Werkzeug seiner Regierung.
Er sei sich sicher, sagte der Minister, nach allem, was er von Ferdinand gehört habe, auf ihn vertrauen zu können, daà er sich jederzeit bemühen werde, dem österreichischen Standpunkt Geltung zu verschaffen.
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22. Premiere
Sie zogen in diese öde, hügelige Gegend um Jägerndorf im damaligen Ãsterreich-Schlesien, wo Ferdinand Supplent, Hilfskraft, am Gymnasium geworden war. Er beobachtete seine neue Umgebung scharf. Jägerndorf, wo sie von 1896 bis 1898 lebten, war bedrückend in seiner Provinzialität, einer Provinzialität, die er längst glaubte hinter sich gelassen zu haben. »Provinz« war das neue Zauberwort und versprach als literarisches Genre Erfolg â ein
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