Meine Väter
die beide anfragten, ob sie das Werk bei der Zensur einreichen dürften. SchlieÃlich erhielt das Volkstheater Wien den Zuschlag, und das Stück wurde bei der Zensurbehörde eingereicht.
Dort erregte die Darstellung der revoltierenden Arbeiter gegenüber den reichen Grubenbesitzern AnstoÃ.
Als Beamter war Ferdinand zur Staatstreue verpflichtet, nur als freier Schriftsteller hätte er Widerstand gegen die Zensur leisten können. Aber er hatte eine Frau und zwei Kinder, er konnte den Lehrerberuf nicht an den Nagel hängen. Willigte er nicht in die Forderung der Zensur ein, war seine ganze Arbeit umsonst. Es ging auch ums Geld, das er dringend brauchte. Also fackelte er nicht lang und willigte in sämtliche Streichungen ein.
Das Naturalistische der Handlung, damals von groÃer politischer Brisanz, war für ihn Mittel zum Zweck. Er war ja kein Aufrührer.
Dann wurde endlich der Termin für die Premiere des Stückes festgelegt.
Zuvor allerdings fuhr Ferdinand zusammen mit dem Regisseur und Dozenten für Ãsthetik, Alfred Freiherr von Berger, nach Mährisch-Ostrau, wo gerade groÃe Streiks stattfanden, um an Ort und Stelle Milieustudien zu machen. Es sollten »Strikeversammlungen« besucht, die Stimmung der Anführer festgehalten, Aufnahmen der Schauplätze gemacht, die »Psychologie der Branntweinschänke« studiert und Kostüme der Arbeiter aufgekauft werden â ein reiches Programm zweier Kulturdiener in Sachen Naturalismus.
Der Sonntag im Jahr 1899 war günstig gewählt, als die Streikenden in dichten Scharen aus ihren »Colonien«, den Arbeitersiedlungen, in die Stadt zu den Versammlungen strömten. Ferdinand, der wuÃte, daà diese Versammlungen nur auf tschechisch abgehalten wurden, forderte einen Dolmetscher, obwohl er tschechisch sprach. Wollte er die Spannungen zwischen Deutschen und Tschechen nicht aufheizen? Die Tschechen waren die mächtigste Nation der Monarchie. Sie verfügten über eine hohe Bildung und waren eine groÃe Konkurrenz für die deutsche Wirtschaft. Zudem ging in den böhmischen Ländern die deutsche Sprache eklatant zurück.
Der Dolmetscher fragte, ob sie in eine sozialdemokratische oder in eine jung-tschechische, also radikale, nicht ungefährliche Versammlung gehen wollten. Die Gefahr lockte, und sie entschieden sich für die tschechische Gruppierung.
Sie näherten sich dem Pavillon, Ferdinand in seinem Winterrock mit Astrachankragen â er hatte vergessen, ihn gegen seinen eigens für diesen Zweck eingepackten schäbigen Havelock auszutauschen â miÃtrauisch beäugt,
um so mehr, als der Dolmetscher mit Ferdinand deutsch sprach.
Ferdinand liefert ein Stückchen gekonnter Prosa. Der Platz um den Pavillon war voller Menschen, ein paar Händler hatten sich am Rand angesiedelt und priesen ihre Waren an. Aus den Mündern und von den Kleidern der Streikenden stieg Dampf auf, ihre Schuhe steckten im Schlamm.
Mit heiserer Stimme beschwor der Sprecher, Mitarbeiter eines tschechisch-nationalen Blatts, seine Zuhörer, beim Streik auszuharren, denn sie hätten es mit Juden zu tun, die die Schuld an der gegenwärtigen Notlage trügen.
Am Nachmittag zogen sie mit zwei Säcken in die »Colonie« hinaus, um den Theaterfundus um »echte Kostüme« der Arbeiter zu bereichern. Nach einiger Suche fanden sie eine Hose mit Lederflicken an Knie und GesäÃ, schwarzklebrig vom Dreck zahlloser Schichten, einen ruÃigen Rock und ein schweiÃgetränktes Leibchen aus Baumwolle. Kaum sprach es sich herum, daà hier zwei Lumpensammler für alte Klamotten zahlten, brachte man von allen Seiten abgetragene Grubenkittel und löchrige Hosen. SpäÃe machten die Runde, die Frauen boten wie Händler ihre zerfetzten Kleider an, Socken, Mützen, Hosen und befühlten die Stoffe der anderen. Rasch waren die beiden Säcke voll.
Doch mit wachsendem Angebot war auch das MiÃtrauen gegen die Fremden gestiegen, und Ferdinand vernahm argwöhnische Fragen: Was wollen die mit unseren alten Lumpen? Machen die sich lustig über uns arme Arbeiter? Sind das Juden oder Christen?
Ferdinand und seine Begleiter flüchteten ins Haus eines Heuers, warteten, bis sich die Menschenmenge vor dem Haus allmählich lichtete und gingen zum Bahnhof. Noch
am selben Abend langten die Säcke samt ihren Begleitern in Wien an.
1900, zur Weihnachtszeit, als Familie Wawroch von
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