Meine Väter
Seele des Kindes .
Kein sanfter, leicht lenkbarer Junge? Muà da nicht zwischen Vater und Sohn schon früh etwas schiefgelaufen sein? Konnte der kleine Arnold sich von der Mutter nicht lösen?
Er blieb an sie gebunden und nahm früh ihre Partei â das zieht sich durch sein ganzes Leben hindurch. Er schaffte nie die Trennung, die das Prinzip des Vaters integriert. Der wiederum â »der Pädagoge in mir meldet sich eben immer wieder zu Wort!« â in den eigenen Wänden der Richtungweisende, war für ein Kind mit eigenem Willen und festen Zielen in seiner Dominanz nur schwer zu akzeptieren.
Wie mag das weitergehen?
Nach längerer Stellensuche gelang es dem frisch gebackenen Dr. phil. und k. & k. Supplent, im Jahr 1896 endlich für 60 Gulden â das reichte gerade für die Miete â für kurze Zeit eine Supplentur an einer Unter-Realschule im II . Bezirk zu ergattern. Ferdinand landete in einem dunklen, unsauberen, winkligen Privathaus in der Glockengasse, im dichtesten Judenviertel der Leopoldstadt. Ãber Treppen und mehrere schmutzige Hinterhöfe gelangte man erst in die Räume.
Das brachte ihn auf. Er notierte: Da sieht man, welchen Stellenwert bei uns die Bildung hat.
Daà man ausgerechnet ihn ins jüdische Viertel versetzt hatte, muà zur Erbitterung beigetragen haben.
WuÃte man, daà er Jude war?
Der Verkehr mit den vielen Kaftanjuden, den Eltern sei
ner Schüler, paÃte ihm nicht. Anzunehmen, daà er bei den Klagen seiner jüdischen Kollegen über die Abneigung der Wiener gegen Juden nach bewährter Methode in Deckung ging.
Es war, als lebte er wieder im fernen Galizien. Er konnte es nicht leiden, wenn jemand so mit sich im Reinen war, tief einverstanden mit seinem Judentum, das er vielleicht nur noch müde erinnerte. Sein innerer Widerstand wuchs, um so mehr, als in den Jahren 1895 und 1896, ganz im Zeichen der christlich-sozialen Wahlkämpfe, Lueger Bürgermeister der Stadt hätte werden sollen, was der Kaiser nicht anerkannte. Ferdinand fand das unbegreiflich. SchlieÃlich gab es keine treuere Stütze für Thron und Altar als Lueger, der ein offenkundiges »arisches Defizit an Bildung und kulturellem Wissen« festgestellt hatte. Es ginge nicht an, daà die Juden die Buchhandlungen stürmten und alle Stehplätze in der Oper besetzten.
Ferdinand konnte sich die Ablehnung dieses tatkräftigen Menschen nur damit erklären, daà die Hofkreise wie der hohe Klerus sich von den demagogischen Kampfmethoden und den rüden Wirtshausschlachten abgestoÃen fühlten, denen Lueger seine groÃen Erfolge zu danken hatte. Tatsächlich war es, so Ferdinand, hauptsächlich das Kleinbürgertum, die »5-Gulden-Männer, wie man sie spöttisch nach ihrer Steuerleistung nannte«, die Lueger hochgebracht hätten, und nicht das liberal-konservative Bürgertum, das in Gesellschaft und Presse maÃgebend war und um seine Machtposition zitterte.
Als nach der verweigerten Unterstützung des Kaisers der Gemeinderat aufgelöst und zum zweiten Mal gewählt wurde, nahm die »Wahlagitation kriminelle Formen« an, die »Wahlschlepper stürmen von Haus zu Haus«, um jede einzelne Stimme wurde gerungen. Ferdinand wurde
mehrfach heimgesucht, alle, die Liberalen, die Nationalen, die Demokraten und die Christlich-Sozialen hatten ihn auf ihren Listen. Einer kam gar zum zweiten Mal und erklärte, seine »Stimme sei noch nicht abgestrichen«, er »war gefangen und muÃte mit ihm gehen«. Der »Wahlhelfer« blieb an seiner Seite bis zum Abstimmungszimmer. Lueger wurde erst 1897 nach dem fünften Wahlgang zum Bürgermeister gewählt.
Eine weitere Realschule, in die man Ferdinand schickte â es herrschte ein groÃer Mangel an Professorenstellen â, lag in der Nähe des Nordbahnhofes in einem riesigen Haus. Die Schülerschaft war überwiegend »arisch« und rekrutierte sich aus den Kreisen deutschradikaler Eisenbahner. Hier ging im Lehrerzimmer die Gewerkschaftszeitung Der deutsche Eisenbahner von Hand zu Hand, die forderte, die Erzeugnisse einer »entarteten Afterkultur« der »Modernen« zu verbannen, wie auch die »verjudete« Wissenschaft: »sonst werden wir von innen heraus zerfetzt«.
Die Wörter »entartet«, Ferdinand aus darwinistischen Studien in Berlin geläufig, »Dekadenz« und »Sinnkrise« kamen in Mode. Alle
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