Meine Wut ist jung
besonders ausgeprägte Rivalitätsverhältnis beider Parteien. Dennoch müssen sie aus den Schützengräben, sie dürfen nicht nur das Trennende sehen, sondern müssen das Gemeinsame suchen. Ampelkoalitionen wird es im Sechsparteiensystem geben.
Wenn sich das Parteienspektrum verändert, wäre es dann nicht auch denkbar, dass die FDP nach rechts abdriftet, um hier neue Wähler zu finden, das heißt die akuten Ängste der Bürger in der Wirtschafts- und Finanzkrise zu bedienen?
Ich weiß nicht einzuschätzen, wie stark die Kräfte in der FDP sind, die eine Richtungsänderung in der Europapolitik und darüber hinaus wollen. Es wurden rechtspopulistische Tendenzen in der Europadebatte sichtbar. Mit diesen versuchte die FDP im Wahlkampf zum Abgeordnetenhaus in Berlin 2011 Wähler zu gewinnen. Dafür wurde sie mit nur 1,8 Prozent abgestraft. Beim Mitgliederentscheid über den Europakurs waren diese Gegenkräfte erstaunlich stark. Es darf aber keine FDP mit einem nationalstaatlich orientierten Kurs geben, der sich von Europa abwendet! Damit würde die FDP ihre Tradition verraten und dann wäre es auch nicht mehr meine Partei.
Nun hat man den Eindruck, der Aufbruch soll unter anderem mit dem Slogan »Wachstum« erfolgen statt mit »Mehr Netto vom Brutto«. Glauben Sie, dass damit die Menschen wieder zu gewinnen sind?
Ich sehe das eher kritisch, denn es darf auf keinen Fall darauf hinauslaufen, dass ein alter, längst überholter und abgenutzter Wachstumsbegriff wiederbelebt wird - als ginge es um Wachstum an sich. Das ist zwar nicht beabsichtigt, aber dieser Begriff löst Irritationen aus. Man muss ihn immer erklären. Er muss in Beziehung gesetzt werden zu anderen Politikfeldern. Beispielsweise geht es um Wachstum an Bildung. Gemeint ist qualitatives und nachhaltiges Wachstum. Es ist immer schwierig, einen Begriff zu verwenden, mit dem man in eine defensive Position kommt.
Christian Lindner und Wolfgang Kubicki werden als neue Hoffnungsträger der Partei gehandelt. Warum traut man es gerade diesen beiden zu?
Sie haben gezeigt, wie Personen das Bild einer Partei verändern können. Ihnen kommt zweifellos jetzt eine ganz entscheidende Rolle zu. Aber allein werden sie es nicht schaffen. Christian Lindner hat ein eigenes politisches Profil entwickelt, das in die Zukunft weist. Er hat das Zeug zu einem liberalen Parteivorsitzenden. Er kann den Wählern glaubhaft vermitteln, dass er liberale Grundwerte vertritt und für einen Politikstil steht, der von Ernsthaftigkeit geprägt ist. Wir - Genscher, Kinkel und ich - haben uns deshalb für ihn mit einem Aufruf im Landtagswahlkampf NRW eingesetzt. Uns beeindruckt, dass er mit »neuem Denken« in die Zukunft gehen will. Das ist für uns ein Schlüsselbegriff. Und Lindner hat auch gezeigt, dass er seine Überzeugungen wichtiger nimmt als politische Ämter. Damit haben wir seine Entscheidung, vom Posten des Generalsekretärs zurückzutreten, positiv gewürdigt. Es ist ihm gelungen, die Partei in NRW zu mobilisieren und auch ihre Anhänger, die seinetwegen die FDP wiedergewählt haben. So hat er eine gewisse Aufbruchsstimmung erzeugt. Man wird sehen, ob sie über NRW hinaus wirken kann.
Wolfgang Kubicki ist ja ein ganz anderer Politiker-Typ. Er kann die Menschen als Landespolitiker bundesweit erreichen, weil er sich holzschnittartig zu Wort meldet. Das kommt nicht unbedingt schlecht bei den Bürgern an, wenn er ausspricht, was viele denken. Ist das eine Fähigkeit, die vielen Politikern heute fehlt?
Das stimmt. Kubicki, aber auch Lindner sind Personen, die kein Blatt vor den Mund nehmen - wenn auch sehr unterschiedlich im Stil. Aber beide sehen, dass sich die FDP in einer Existenzkrise befindet, und thematisieren das offensiv; Kubicki manchmal sehr pointiert - so etwa, wenn er den Wachstumsbegriff von Philipp Rösler mit dem Wort Haarwachstum ad absurdum zu führen versucht. Aber ohne Benennung der Ursachen für die Krise und das Aussprechen unbequemer Wahrheiten kommt die FDP nicht wieder auf die Beine. Authentische Politikertypen wie diese beiden brauchen wir, um wahrgenommen zu werden. Die Signale, die beide aussenden, weisen den Weg in die richtige Richtung. Die FDP muss sich nicht neu erfinden, aber sie muss sich ohne Scheu den Zukunftsproblemen stellen, notfalls auch darüber streiten. Ich habe von Dahrendorf gelernt, dass Streit um bessere Lösungen ein Lebenselement der Demokratie ist. Die FDP könnte mit einer intellektuellen und leidenschaftlichen Streitkultur wieder
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