Meine Wut ist jung
attraktiv werden.
Welche Chancen hat die FDP in den kommenden Wahlen?
Das hängt von ihr selbst ab. Und davon, ob sie die Kraft hat, sich von unten - also von den Landesverbänden her - zu erneuern. Eine Nagelprobe ist die Landtagswahl in Niedersachsen im Januar 2013 - eine Nagelprobe für den Bundesvorsitzenden Rösler wie für seinen Generalsekretär Patrick Döring, die ja beide aus Niedersachsen kommen. An Rösler gibt es zurzeit viel innerparteiliche Kritik. Es ist feige, hinter seinem Rücken gegen ihn zu agieren. Kritik muss offen geäußert werden und nicht in diskriminierender Weise. Mit welcher Spitze die Partei in die Bundestagswahl gehen wird, muss spätestens auf einem Parteitag im Mai 2013 entschieden werden. Mit den Wahlen in Schleswig-Holstein und in NRW ist eine Schlacht gewonnen worden. Die Existenzkrise ist noch nicht überwunden. Man wird die Umfragezahlen der Bundespartei im Vergleich zu den Ergebnissen in Schleswig-Holstein genau beobachten müssen. Lindner und seinem Landesverband NRW kommen hierbei eine Schlüsselrolle zu. Ich bin sicher, dass er mit seiner Politik Einfluss auf den Kurs der gesamten Partei gewinnen wird. Er ist entschlossen, NRW zu einem Modell für neues liberales Denken zu machen - sozusagen ein »Labor NRW«. Er beruft sich auf die Traditionslinien, die durch die Namen Hans-Dietrich Genscher, Otto Graf Lambsdorff und durch meinen Namen verkörpert werden. Damit meint er einen ganzheitlichen Liberalismus. Das bedeutet aus meiner Sicht: eine Wirtschaftspolitik, die auch auf gesellschaftlicher Verantwortung gegründet ist. Eine Bildungspolitik der Chancengleichheit auch für Kinder aus Familien mit niedrigem Einkommen oder mit Migrationshintergrund. Es sollte - wie in den 1960er-Jahren - der Slogan »Bildung für alle« wieder ernst genommen werden. Bildung ist die wichtigste Ressource, die unser Land hat. Ebenso gehört zum neuen Denken eine Bürgerrechtspolitik, die allen Versuchungen zur Unfreiheit widersteht. Ich wünsche mir eine Politik, die die Demokratie mit neuem Leben erfüllt - bei uns und in Europa. Die Außenpolitik muss neue Impulse für Europa entwickeln und für dessen Rolle in einer neuen Weltordnung. Die Kompetenzverlagerung hin zur Bundeskanzlerin ist kein Hinderungspunkt für ein eigenes liberales außenpolitisches Profil, das bisher nur in Ansätzen sichtbar ist.
Die FDP hat durchaus Chancen, sich zu erneuern. Im Freiburger Programm von 1971 haben wir unsere Grundüberzeugung auf den Punkt gebracht. Einerseits: »Der Staat darf nicht alles.« Das heißt, den Bürgern müssen weitgehende Entfaltungsmöglichkeiten gegeben werden. Das ist eine Absage an Staatsgläubigkeit und Bevormundung. Andererseits: »Der Staat sind wir alle.« Das ist eine Absage gegen die in der FDP immer noch verbreitete Feindseligkeit gegenüber der gestaltenden Aufgabe des Staates. Dieses Programm war und ist ein Plädoyer für Leistung und Solidarität in unserer Gesellschaft - anders als 1971 nicht für eine bestimmte Koalition.
Ich bin der Meinung, die Bundestagswahl 2013 ist keineswegs entschieden. Es geht bei ihr auch um das Schicksal der immer noch existenzgefährdeten FDP. Viele Menschen in unserem Land wollen auf eine liberale Partei nicht verzichten. Wie sie gewonnen werden können, haben die Wahlen in Schleswig-Holstein und in NRW gezeigt. Es waren Wahlerfolge, die gegen den Bundestrend erzielt worden sind. Daraus müssen Schlussfolgerungen gezogen werden.
Was künftige Koalitionen angeht, so ist die kurze Antwort bemerkenswert, die Hans-Dietrich Genscher kürzlich bei »Markus Lanz« auf die Frage nach seiner Wunschkoalition 2013 gab: eine Koalition, die auf Fortschritt und Gerechtigkeit setzt. Das war knapp und deutlich.
»Ich sah mich nicht nur in der Rolle des Rechts-, sondern auch des Lebensberaters«
Der Anwalt an der Seite der Opfer
Nach Ihrer Zeit als aktiver Politiker sind Sie wieder als Anwalt tätig geworden. Herr Baum, ein Schwerpunkt dabei war und ist Ihr Engagement als »Opferanwalt«. Warum haben Sie sich gerade auf dieses Gebiet konzentriert?
Als aktiver Politiker sah ich für mich zuletzt keine Entwicklungsmöglichkeiten mehr. In der veränderten FDP war ich nur noch ein Außenseiter, den die Partei ungern vorzeigte. Dennoch konnte ich einen gewissen Einfluss ausüben. In seinen Memoiren beklagt sich Franz-Josef Strauß über »überflüssige und Kräfte bindende Auseinandersetzungen«, die mit den Namen Hans-Dietrich Genscher, Gerhart Baum und
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