Meine Wut rettet mich
Deutschland, mit der Tageslosung umging und wie unser Braunschweiger Bischof Friedrich Weber den Psalm 146 las, war ich richtig froh, Protestant zu sein. So muss das sein! Weber verlieh den Worten beim Sprechen das Gewicht, das sie haben. Er drehte nicht schauspielerisch auf, wie dies manche heute den Pfarrern empfehlen. Das ist ganz falsch. Worte müssen aus ihrem Geist heraus ihr Gewicht entwickeln. Als ich dann hingegen die Messe des Papstes in Erfurt sah, dachte ich mir: »Ja, man kann Texte auch regelrecht entleiben, liturgisch entleiben.« Die Dramatik, die Expressivität, die poetische Schönheit, prophetische Kraft, geistliche Tiefe, auch das Erschrecken und Erstaunen wird völlig eingeebnet, wenn man sie in einem Singsang vorbringt. Die Welt kann von einer Kirche, die einen solchen Singsang macht, nicht erwarten, dass sie Sand in irgendeinem Getriebe der Welt sein könnte.
Sie beziehen sich auf ein Gedicht von Günther Eich: »Seid Sand, nicht das Öl im Getriebe der Welt …« aus dem berühmten Hörspiel »Träume«. Dieses Gedicht wurde zu einer Art Schlagwort für kritischen Zeitgeist, unter anderem »attac«, die Organisation von Globalisierungsgegnern, der Sie sich 2009 angeschlossen haben, griff es als Leitmotiv auf. Was heißt das für Sie: Muss man ständig der Sand sein? Und wie verbindet sich das mit dem Protestantismus?
Ich bin seit ungefähr meinem fünfzehnten Lebensjahr stark geprägt durch Literatur, besonders auch durch Lyrik, durch klassische wie moderne. Dieses Gedicht gehört zu jenen, die mir immer im Gedächtnis sind. Ich interpretiere es so: Wir sollen nicht prinzipiell Sand sein im Getriebe, sondern immer dann und dort, wo die Welt falsch läuft. »Wacht auf, denn eure Träume sind schlecht, wacht auf«, ich zitiere wieder Eich: Aus diesem Pathos heraus verstehe ich mein Protestant-Sein. Und zwar nicht aus dem Pathos des Imperativs, sondern des erwachten, ermunterten und durch die Schrift ermutigten Menschen. Prinzipiell »Sand« zu sein, wäre lebensfeindlich.
Dieses Wachsein erwarten Sie als Dauerzustand?
Ja.
Dadurch könnte man sich getrieben fühlen, sich rund um die Uhr zu engagieren.
Stimmt. Und das macht dann aber unglücklich. Gerade ein Mensch, der sich auf die Welt eingreifend bezieht – Bert Brecht nennt dies sehr schön das »eingreifende Denken«, ein Denken also, das sich nicht im Heidegger’schen Kreis des immer Gleichen bewegt, sondern auf Veränderung aus ist –, gerade so jemand muss auch Zeiten haben, in denen er es gut sein lässt. »Lass es gut sein«, heißt auch eines meiner Bücher. Martin Luther hat nach seiner Rückkehr von der Wartburg und noch bevor er das Einverständnis des Kurfürsten hatte, einfach im Vertrauen, unter höherem Schutz zu stehen, in Wittenberg über seine Predigten eingegriffen. Zweierlei will ich daran zeigen. Das eine ist: Er hat eingegriffen, weil er es für unerträglich hielt, wie manche mit den Altgläubigen, wie damals die Katholiken hießen, umgingen. Nämlich so, wie sie das selbst erlebt hatten, als die Macht der katholischen Kirche noch ungebrochen war. Man muss unglaublich aufpassen, dass man nicht nach dem Kampf mit einem Gegner, sobald man ihn besiegt hat, dessen Gesetze selbst anwendet. Wer zu viel Feind gefressen hat und den nicht ausscheidet, der lebt weiterhin in alten Kämpfen und sieht immer wieder irgendwo Feinde. Manche, die gegen den Kommunismus gekämpft hatten, behielten auch, nachdem sie gesiegt hatten, ihr Feindbild bei: Kommunisten. Obwohl es die nicht mehr gab. Sie machten nun also nichts anderes als zuvor die Kommunisten: Sie jagten Phantomfeindbilder.
„ Wer zu viel Feind gefressen hat und den nicht ausscheidet, der lebt weiterhin in alten Kämpfen und sieht immer irgendwo Feinde. ”
Das andere ist: Luther predigte und er predigte so beeindruckend, dass er beeindruckt war, wie sehr er damit offenbar die Leute erreichte, und dennoch kam in einer dieser Predigten folgender Satz vor: »Während ich mit meinem Freund Philippus abends mein Wittenbergisch Bier getrunken habe, läuft das Evangelium.« Er meint damit: Man soll sich engagieren, man soll dann aber auch darauf vertrauen, dass die Dinge ihren Weg gehen und gut werden. Dieses Vertrauen muss man haben. In der Bibel gibt es dafür noch ein Bild: Weil Leute nicht abwarten können, bis eine Pflanze wächst, helfen sie ihr beim Wachsen. Sie ziehen an ihr und entwurzeln sie dabei. So ist es manchmal auch mit dem Engagement von Menschen. Sie
Weitere Kostenlose Bücher