Meine Wut rettet mich
Wortvirtuose schöpft aus endlosen Meeren von Zitaten – aus der Bibel, aus Literatur, Theologie, Poesie, eigenen Texten. Zitate, die so mit seinem eigenen Sprechen verschmelzen, dass man sie manchmal kaum identifiziert. Schorlemmer schwimmt in Büchern: Die Regale seiner Wohnung in Wittenberg quellen über, noch auf dem Boden reihen sich Bibeln. Dazwischen lugen Erinnerungen und Wegmarken hervor: Orgelpfeifen aus einer Kirche in Rädel an der Elbe, die renoviert wird. Ein Spaten aus Titan, gefertigt aus dem Mantel einer alten Atomrakete. »Den hat mir ein deutscher Kriegsgefangener in Russland geschenkt, der, wie manche Kameraden, sein Leben der Fürsorge russischer Mütter verdankt. Deshalb unterstützt er heute soziale Initiativen und Friedensinitiativen in Russland.« Schmunzelnd zeigt er den Ehrendoktorhut der Concordia-University in Austin (Texas). Ihn amüsiert der Kontrast zu George W. Bush. Er bekam die Ehrung 2002, bald nachdem der vormalige Gouverneur des Bundesstaats Texas amerikanischer Präsident geworden war. Und kurz nachdem, vielleicht auch obwohl Schorlemmer den von Bush veranlassten Kriegsschlag der USA gegen Afghanistan 2001 in einem Artikel für den Spiegel heftig verurteilt hatte.
Auf einem Bord duften Äpfel – ein Wegweiser für ein von ihm oft gebrauchtes Symbol inmitten aller Skepsis und Kritik am Menschen. »Ich habe die Vision von einer Welt, in der alle Menschen ein Lebensrecht haben. Sie ist reich genug und schön genug. Aber es geht nicht weiter so, dass wir in einer so gespaltenen Welt leben, wie wir jetzt leben, zwischen Nord und Süd zum Beispiel. Und wenn wir kein globales Gewissen entwickeln für die Lebensfähigkeit aller Menschen der Gegenwart und für die Überlebensfähigkeit des Ganzen, haben wir keine Zukunft mehr«, erklärte er 1990 im Interview »Zur Person« mit Günter Gaus und bestätigte: Ja, er würde auch heute, trotz aller Ernüchterung, wie einst Luther, »das Apfelbäumchen pflanzen«, selbst wenn ungewiss wäre, ob morgen die Welt untergeht.
Die Art, wie wiedervereinigt wurde, war für Schorlemmer in vieler Hinsicht enttäuschend: Die DDR wurde in seinen Augen angeschlossen an den Westen, die Chance vertan, sich partnerschaftlich zu vereinigen. Einige der Menschen, die gerade noch in der Opposition in der DDR mit ihm Seite an Seite demonstriert hatten, bedienten sich nach der Wende rasch alter Muster »der anderen«, die man gerade weggejagt hatte. Er zürnte, ließ sich aber nie entmutigen, sondern handelte. Im Januar 1990 wechselte er in die SPD, er gehörte zu den Unterzeichnern der Erfurter Erklärung von 1997, die ein Linksbündnis von SPD und Bündnis 90/Die Grünen ohne Ausgrenzung der PDS zur Ablösung der Bundesregierung forderte, wurde Mitherausgeber der Wochenzeitung Freitag, trat dem Anti-Globalisierungs-Netzwerk attac bei, mischt sich ein. Und er nimmt hin, was wohl nicht zu ändern ist. Zum Beispiel in Wittenberg. Im offiziellen Erscheinungsbild verdrängt Wittenberg die Zeit des Widerstands und der Bürgerrechtsbewegung ebenso wie die DDR-Geschichte. Dieser nehmen sich ein paar Privatleute an in einem »Haus der Geschichte«. Dort sammeln und zeigen sie, was ihnen Mitbürger aus alten DDR-Zeiten vorbeibrachten. Der offizielle Imagefilm hingegen haucht der Stadt, der die SED den Glauben austrieb, ausschließlich protestantisches Traditionsbewusstsein ein: Wir sind Luther. So etwas ärgert Schorlemmer. Ihn macht wütend, wie Luther vermarktet wird, inhaltsleer, wie er findet. Hauptsache die Kasse klingle.
Schorlemmer sagt seine Meinung. Fertig. Und er bleibt Optimist. »Ich wage es. Ich bin der Außenminister, Bonn 1949«, startet Friedrich Schorlemmer für Die Zeit im Juni 2011 die Zeitmaschine. In seiner Geschichtsvision nimmt er Stalins Deutschlandnote beim Wort: Wiedervereinigung gegen Neutralität. Die deutschen Staaten werden bereits 1952 zu einem Volk vereint, in Prag gründet sich ein »Haus Europa«, das alle Völker der Sowjetunion einschließt, der Kalte Krieg findet gar nicht statt …
Manches Mal zweifelte und verzweifelte Schorlemmer an Menschen, doch nie am Gottvertrauen. Der christliche Glaube war ihm Richtschnur und Wegweiser von klein auf. Er fühlt sich beschützt. Mit dreizehn stürzte er vom Kirchturm, wo er Taubennestern nachgeklettert war, zwanzig Meter in die Tiefe. Ein Geländer bremste ihn, er blieb unverletzt. Im selben Jahr starb sein Bruder. Ein Schock. Der Verlust, die trauernden Eltern, der allwöchentliche Gang
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