Meine Wut rettet mich
Verantwortung.
Empfanden Sie es als besondere Auszeichnung oder als ein besonderes Glück, als Sie 1978 ausgerechnet an seine Wirkungsstätte Wittenberg berufen wurden?
Nein. Ich kam mit großer Distance hierher. Als ich von Weitem den Schlosskirchenturm sah, dachte ich: »Da willste eigentlich gar nicht hin.«
Warum nicht?
Wittenberg wirkte auf mich wilhelminisch und lutherisch. Und lutherisch war für mich damals negativ besetzt. Die lutherischen Kirchen hatten sich an alle Regimes angepasst, in Thüringen war die lutherische Kirche sehr staatsnah. Ich war nicht in lutherischer Tradition. Ich gehöre zu den Unierten 73 , sehe mich in der Tradition der Bekennenden Kirche, der Tradition von Dietrich Bonhoeffer. Die lutherische Theologie war mir fern. Aber der junge Luther war mir seit Langem nah. Ich habe gleich in meinem zweiten Studienjahr eine Seminararbeit geschrieben über seine bedeutende Schrift von 1520 »An den christlichen Adel deutscher Nation. Von des christlichen Standes Besserung«. Diese Schrift hat mich mein ganzes Leben lang begleitet. Eine Kernaussage darin ist: »Die Zeit zu schweigen ist vergangen und die Zeit zu reden ist gekommen.« Diese Aussage haben wir 1988 über unsere 20 Thesen zur Umgestaltung der DDR gestellt.
Sie wollten nicht nach Wittenberg, blieben dann aber, bis heute, und haben sich vielfältig engagiert in Wittenberg, vor der Wende und danach, Sie saßen im Gemeinderat, arbeiten in der Cranach-Stiftung mit – und halten zu besonderen Anlässen wie dem Töpfermarkt auch als Ruhestandspfarrer noch Gottesdienste in der Stadtkirche. Wodurch haben Sie sich so eingelebt?
1979, wenige Monate nachdem ich hierher gekommen war, begannen wir, uns intensiv mit Luther zu beschäftigen, um die Feiern zu seinem 500. Geburtstag im Jahr 1983 vorzubereiten, dem Jahr, in dem wir hier auch den Kirchentag abhielten. Gemeinsam mit dem Historiker Volkmar Joestel, der sich übrigens nicht als Christ sah, habe ich 45 Luther-Abende gemacht, bei denen es um seine verschiedenen Positionierungen ging: Luther und die Frauen, Luther und die Juden, Luther und das Geld, Luther und die Gemeinde, Luther und der Papst. Da habe ich selbst noch sehr viel Neues über Luther erfahren. 74
Nur jeder zehnte der 46 000 Einwohner Wittenbergs ist evangelisch. Dennoch stellt sich die Stadt ganz ins Licht der Reformation. Wittenberg vermarktet sich schon länger vor allem unter dem Namen »Luther«. Sein 450. Todestag im Jahr 1996 war Durchbruch zu einer massiven Luthervermarktung – sein Konterfei erschien auf Bechern und T-Shirts, auf den Speisekarten werden »Luther-Menü« und »Luther-Bier« angeboten. 2008, zum Auftakt der Luther-Dekade 2008 bis 2017, verkündete der damalige EKD-Ratsvorsitzende Wolfgang Huber in der Schlosskirche, Wittenberg solle »ein evangelischer Leuchtturm« werden. Luther ist nicht nur hier der Lockvogel: »Luther 2017. 500 Jahre Reformation« ist die offizielle Bezeichnung der Stiftung Luthergedenkstätten in Sachsen-Anhalt und der EKD-Geschäftsstelle.
Entscheidend ist: Wir haben eine Reformations-Dekade, keine Luther-Dekade, wie sie immer benannt wird. 75 2017 feiern wir 500 Jahre Reformation, da jährt sich der Anschlag der 95 Thesen gegen das Sich-Freikaufen bei Gott durch Ablass. Die Thesen hat Luther angeschlagen, er hat manches angestoßen, aber er ist eben nicht der einzige Kopf der Reformation. Und an Luther gibt es Züge, die nicht zu feiern sind.
Gut, kommen wir also zum Kern: Welche Botschaften birgt speziell die lutherische Art der Reformation für uns?
Erstens: Der Mensch ist als Mensch an sich etwas wert, unabhängig von dem, was er leistet; deshalb kann der Mensch nicht aus Angst vor Gott, sondern im Vertrauen auf ihn leben. Zweitens: Jeder ist an sein Gewissen gebunden; das darf keine Macht infrage stellen, weder eine staatliche noch eine weltliche. Daraus folgt als dritter Punkt, dass sich der Einzelne gegen vereinnahmende Institutionen verteidigen darf. Und dann schließlich viertens der Bezug auf das Wort der Bibel, aus dem Gott hervorscheint.
Der Bezug auf das Wort der Bibel sei eine Leistung der Reformation, sagen Sie. »Am Anfang war das Wort« beginnt das Johannes-Evangelium. Sie selbst sind ein Mann voller Wortgewalt. Liegt im Wort die Wurzel für den protestantischen Geist christlichen Glaubens?
Beim Besuch des Papstes empfand ich dies im direkten Vergleich. Als ich sah, wie Katrin Göring-Eckardt, die Präses der Synode der Evangelischen Kirche in
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