Meinen Sohn bekommt ihr nie

sein.
    Ein paar Tage später holt uns Sabine bei meinen Eltern ab. Sie quartiert uns bei sich zu Hause ein, kocht für uns, besorgt uns Kleider und all das, was es für den Anfang braucht. Denn außer den wenigen Habseligkeiten, die ich mitnehmen konnte, besitze ich nichts mehr. Alles habe ich in Tel Aviv zurückgelassen, und mittlerweile weiß ich auch, dass es Moshe mit der die Angst zu tun bekommen hat und mir die gepackten Kisten aus der Wohnung nicht mehr nachschicken wird.
    Noams Mittelohrentzündung ist abgeheilt. Voller Tatendrang entdeckt er die ihm unbekannte Welt und freut sich über seine neuen Spielgefährten.

    Die ersten Tage nach meiner Rückkehr sind seltsam für mich. Wenn morgens der Wecker klingelt, suche ich nach meiner vertrauten Umgebung, ich wähne mich noch in Tel Aviv. Es braucht eine Weile, bis ich begreife, wo ich tatsächlich bin.
    In Lausanne treffe ich Monsieur Favre, einen Anwalt und weitläufigen Bekannten. Ich erzähle ihm meine ganze Geschichte, auch die Umstände der Flucht. Er rät mir, mich ruhig zu verhalten, bis Gras über die Sache gewachsen sei. Grund zur Sorge bestehe in seinen Augen vorläufig nicht.
    Meine Freundin fährt in den Urlaub und überlässt mir das Haus. Noam und ich können ganz ungestört den schönen Sommer genießen, und ich möchte die Zeit vor allem nutzen, um Arbeit zu finden. Dabei bleibe ich jedoch stets wachsam.
    Drei Wochen vergehen, ohne dass Nennenswertes geschieht. Das gibt mir die Gelegenheit, meinen heiß geliebten behördlichen Papierkram zu erledigen, um in der Schweiz wieder Fuß zu fassen. Glücklicherweise haben die helvetische und die israelische Bürokratie nur wenig miteinander gemein, und ich stelle erleichtert fest, dass ich für den Abschluss einer Versicherung oder die Anmeldung bei einer Krankenkasse nicht ganze Tage in den Amtsstuben verbringen muss.
    In Sabines Garten kann Noam nach Lust und Laune spielen, während ich meinen Blick über den See und die Berge schweifen lasse und mich an einer Landschaft erfreue, die ich so schnell nicht wiederzusehen glaubte. Tränen der Erleichterung steigen mir in die Augen.

Lausanne
    Ich habe Glück und werde wieder von dem Lausanner Konzern angestellt, bei dem ich schon vor meiner Zeit in Israel arbeitete. Meine Kollegen staunen nicht schlecht, als sie mich nach all den Jahren wiedersehen. Die wahren Hintergründe meiner Rückkehr behalte ich allerdings für mich. Gemäß der offiziellen Version wollte ich nach meiner Scheidung wieder nach Europa zurück, und was war da näherliegend, als in die Nähe meiner Familie zu ziehen?
    Meine Schwester besorgt mir ein Auto, so dass ich den Weg zwischen Sabines Haus und dem Büro bequem zurücklegen kann. Am Morgen bringe ich Noam zu einer Tagesmutter, und nach der Arbeit hole ich ihn wieder ab.
    Als der Sommer zu Ende geht, ziehe ich bei Sabine aus und nehme mir eine Wohnung in Lausanne. Gleich nebenan befindet sich die Synagoge. Will mich das Schicksal an mein in der Wüste gegebenes Versprechen erinnern?
    Jetzt, wo ich eine feste Anschrift habe, sind gewisse Maßnahmen nötig, um meine Anonymität zu schützen. Als ich meinen Wohnsitz anmelde, lasse ich mich auf die schwarze Liste setzen, damit mein Name weder im Telefonbuch noch in den Suchmaschinen der Stadtverwaltung erscheint, auf die jeder zugreifen kann. Auch vermeide ich es tunlichst, mit der Kreditkarte zu bezahlen oder mich in sozialen Netzwerken im Internet anzumelden. Ich bemühe mich grundsätzlich, keine Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen.
    Und das mit gutem Grund, denn wie ich später erfahren werde, hat Shai bereits einen Privatdetektiv auf mich angesetzt, um mich bei meinen Eltern aufzuspüren.
    Weil es mir sicherer erscheint, soll Noam tagsüber zu Hause betreut werden. Eine Nachbarin stellt mir Octavio vor, einen jungen Südamerikaner, der Arbeit sucht. Sofort springt der Funke über, und so kommt es, dass sich Octavio ab sofort und für die folgenden zwei Jahre liebevoll um Noam kümmern wird.
    Zusammen mit Paulo, einem seiner Freunde, wird er mir rasch zu einer wichtigen Stütze. Auch Paulo kann gut mit Kindern umgehen, so dass ich ihm Noam blind anvertrauen kann, wenn Not am Mann ist. Wie zwei große Brüder werden die beiden den Kleinen umsorgen und enge Freunde von mir werden.

    Ansonsten hat sich in Lausanne nicht viel verändert. Mit der Zeit finde