Meinen Sohn bekommt ihr nie
schönen, sportlichen Shai, der anfangs so charmant und offen war und mich mit seinem Idealismus und seinen Wertvorstellungen für sich eingenommen hat. Ich wollte an seiner Seite wachsen, weitere Kinder haben, ihn nach besten Kräften unterstützen und begleiten. Doch er lieà sich von anderen Ideen betören und einnehmen und büÃte damit sein kritisches Denkvermögen und seinen freien Willen ein, um als bloÃe Marionette zu enden. Trotz all meiner Versuche, ihn zur Vernunft zu bringen, konnte ich nur ohnmächtig dem radikalen Wandel zusehen, der sich an ihm vollzog und ihn zu einem Mann machte, der mich gedemütigt, bedrängt, bedroht hat. Was steht uns nun bevor? Wird Shai uns verfolgen und sich rächen? Mir sind noch die Worte des Berner Beamten im Ohr: In der Schweiz würde ich in Sicherheit sein. Ich bin froh, dass ich damals geistesgegenwärtig genug war und nicht locker lieÃ, bis Shai einem Schweizer Pass für Noam zustimmte. Ohne ihn säÃen wir nicht in diesem Flugzeug.
Auch denke ich an Noams und meine Zukunft. Ich fühle mich meinem Versprechen verpflichtet, das ich in der Wüste gegeben habe, auf dem Parkplatz vor dem letzten Grenzposten, als mein Auto nicht anspringen wollte und mir nur noch das Beten blieb. Noam soll seine Wurzeln kennen, den jüdischen Glauben, das habe ich mir fest vorgenommen. Und wenn er gröÃer ist, kann er sich für oder gegen ihn entscheiden. Unter keinen Umständen soll er zu etwas gezwungen werden. Ich möchte meinem Sohn beibringen, dass jeder Jude seine Religion so leben kann, wie er sie versteht, aus freien Stücken.
Aber bis dahin ist noch Zeit. Das Flugzeug senkt sich zum Landeanflug auf Genf. Mir ist klamm ums Herz, ich kehre wieder dorthin zurück, von wo ich aufgebrochen bin.
Die Heimkehr aus den Ferien ist meist ein freudiges Ereignis. Von der Sonne gebräunte Menschen treffen auf ihre Angehörigen und brennen darauf, ihnen von ihren vielen Erlebnissen zu erzählen. Die Begegnung mit meiner Familie ist selbstverständlich von einer anderen Art und Intensität. Kaum sind wir aus dem Flugzeug ausgestiegen, eile ich mit Herzklopfen in Richtung Ausgang. Ich kann es kaum erwarten, sie alle wiederzusehen. Doch vor der Passkontrolle hat sich eine lange Schlange gebildet, ich muss mich gedulden.
Als ich endlich in die Ankunftshalle trete, sind sie alle da: meine Eltern, meine Schwester und ihr Mann, meine Nichten, die Freunde⦠Wir fallen uns in die Arme, lachen und weinen vor Freude. Noam begreift noch nicht richtig, was um ihn vor sich geht, und läuft vergnügt zwischen den Gepäckwagen umher.
Später berichte ich der Familie im Haus meiner Eltern ausführlich von meinen Erlebnissen im Sinai. Meine Eltern wurden von meiner Schwester erst im letzten Moment über alles informiert und zittern noch im Nachhinein. Ich stelle mir vor, wie Shai zum selben Zeitpunkt in Tel Aviv zu seinem Sonntagsbesuch kommt und bemerkt, dass Noam und ich weg sind. Bestimmt wird er mein Verschwinden sofort der Polizei melden.
Ich rufe meinen Anwalt Igal in Tel Aviv an. Um kein Risiko einzugehen, suche ich dafür eine Telefonzelle auf. Er erzählt mir, dass die Polizei bereits bei meiner Arbeitsstelle aufgetaucht sei und meine Kollegen befragt habe. Auch Igal, meine Familie, meine Freunde, die Angestellten in der Krippe und sogar Nachbarn und Händler aus dem Viertel mussten sich ihren Fragen stellen. Ich tat gut daran, den Leuten in meinem Umfeld nichts anzuvertrauen, auch zu ihrem eigenen Schutz. Da keiner im Bilde war, musste die Polizei unverrichteter Dinge wieder abziehen. Igal meint, dass im Moment nichts weiter unternommen werde.
Es wäre dennoch unvorsichtig, länger bei meinen Eltern zu bleiben. Im Falle einer Fahndung würde man mich zuerst bei meinen Angehörigen suchen. Und auch wenn wir uns ganz legal in der Schweiz aufhalten und unsere Papiere in Ordnung sind, möchte ich auf Nummer sicher gehen. Ich weiÃ, mit wem ich es zu tun habe.
Sabine, eine enge Freundin, bietet mir an, auf unbestimmte Zeit bei ihr unterzukommen. Mit ihren drei Kindern wohnt sie in einem groÃen Haus an der Waadtländer Riviera auf der Höhe von Vevey, mit einem unverbaubaren Blick auf den Genfer See. Das Haus liegt zwischen Maisfeldern verborgen mitten auf dem Land, am Ende eines Weges, der nirgendwohin führt. Um mich hier aufzuspüren, müsste man schon ganz schön clever
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