Meinen Sohn bekommt ihr nie
ich mich wieder zurecht und richte mir mein Leben im Halbverborgenen ein. Die Leute machen sich über mich lustig, wenn meine israelischen Reflexe zum Vorschein kommen: Die Gewohnheit, beim Betreten eines Restaurants oder eines Geschäfts unvermittelt meine Handtasche weit aufzureiÃen oder beim Anblick einer herrenlosen Tasche wie verwurzelt stehen zu bleiben, steckt noch tief in mir.
Noam macht groÃe Fortschritte, und seine gesundheitlichen Probleme gehören schon bald der Vergangenheit an. Auch seine einzige Niere entwickelt sich gut. Die Wochenenden verbringen wir bei meinen Eltern im benachbarten Frankreich. Sie sind überglücklich, dass wir in ihrer Nähe sind.
Vier Monate sind seit meiner Rückkehr in die Schweiz vergangen, und noch immer kein Zeichen aus Tel Aviv. Meine israelischen Freunde fehlen mir sehr, auch, weil ich sie so überstürzt und ohne jede Ankündigung verlassen habe.
Als ich Myriam anrufe, erzählt sie mir, dass Shai und seine Mutter bei ihr aufgetaucht seien. Sie beschuldigten sie der Komplizenschaft und behaupteten steif und fest, dass Myriam in mein Fluchtprojekt eingeweiht gewesen sei und wisse, wo wir uns aufhielten. Auch sie musste sich einem strengen Polizeiverhör unterziehen, das jedoch ergebnislos blieb, da Myriam genauso wenig wusste wie die anderen. Mir ist schwer ums Herz bei dem Gedanken, dass ich sie, meine Freunde und die Verwandten lange nicht wiedersehen werde. Ich mache mir Vorwürfe, weil sie dies alles meinetwegen durchmachen mussten. Myriam beruhigt mich: Sie alle hätten meine Not gekannt und gewusst, dass ich keine andere Wahl hatte.
Sie berichtet mir auch, dass Shais Wandlung seit meiner Abreise weiter vorangeschritten sei. Anscheinend kurvt er nun im schwarzen Mantel und mit Hut auf seinen Inlineskates durch die StraÃen von Tel Aviv und hält öffentliche Ansprachen, in der Hand eine gelbe Fahne, auf der in groÃen schwarzen Lettern «Der Messias» steht. Kurz darauf schickt sie mir ein Foto, das durch die Presse ging. Ich bin entsetzt, Shai sieht darauf haargenau wie sein Mentor, Rabbi Asaria, aus.
Verflixter Pass!
Ich bin ausgesprochen gut organisiert und plane die Dinge gerne frühzeitig. Die Winterreifen montiere ich im Oktober, in meinem Tank ist immer Benzin, und Rechnungen bezahle ich gewöhnlich im voraus.
So verliere ich auch keine Zeit, als Noams Pass abläuft. Weil wir jedes Wochenende über die französisch-schweizerische Grenze zu meinen Eltern fahren, ist es mir lieber, wenn alles geregelt ist. Selbst wenn die Grenzen in Europa nicht mehr streng bewacht werden, weià man nie, ob man nicht an einen pingeligen Zollbeamten gerät. Noam ist bald drei Jahre alt. Fast ein Jahr ist seit unserer Abreise aus Israel vergangen, und ich werte es als ein gutes Zeichen, dass bislang alles ruhig blieb. Von Shai noch etwas zu hören, ist eher unwahrscheinlich. Die ganze Zeit über hat er nie nach seinem Sohn gefragt, und von meinen Freunden habe ich erfahren, dass er wieder geheiratet hat.
Im Mai 2006 gehe ich also aufs Amt, um Noams Pass fristgerecht zu verlängern; einen Monat später würde er seine Gültigkeit verlieren. Der Beamte weist mich darauf hin, dass ich dafür die Bewilligung des Vaters bräuchte. Ich erkläre ihm, dass wir geschieden seien und der Vater in Israel lebe, aber dass das Sorgerecht bei mir liege. Zum Beweis lasse ich einen Auszug aus dem Urteil des Tel Aviver Familiengerichts vom November 2004 aus dem Hebräischen ins Französische übersetzen, aus dem hervorgeht, dass mir das Sorgerecht für Noam zugesprochen wurde. Alles scheint in Ordnung, ich bin beruhigt. Jetzt müssen wir nur noch warten. Ungefähr drei Wochen, so der Beamte des Passamts.
Als die Zeit um ist, wird mir durch ein Schreiben mitgeteilt, dass die Pässe zum Abholen bereit lägen. Auch meinen Pass habe ich bei dieser Gelegenheit verlängern lassen.
Und genau diesen verflixten Pässen habe ich den nicht enden wollenden Kampf zu verdanken, der nun folgen sollte.
Am Schalter sitzt derselbe Herr. Er schaut mich lange an, schiebt dann die Plexiglasscheibe nach unten, um sie vor mir zu schlieÃen. Er bittet mich zu warten, bis er zurück sei. Es vergehen quälend lange Minuten. Irgendetwas stimmt nicht, irgendetwas ist faul.
Der Mann kommt zurück und sagt verlegen: «Frau Neulinger, es tut mir leid. Auf Anweisung aus Bern darf ich Ihnen die Pässe nicht
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